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Eugen Richter und Max Weber über Bismarcks Vermächtnis (1890 und 1917/18)

Die meisten Liberalen teilten Hans Delbrücks Anerkennung der Größe Bismarcks oder seine zuversichtliche Einschätzung der Zukunft Deutschlands nicht. Der Führer der linksliberalen Deutschen Freisinnigen Partei Eugen Richter (1838-1905) freute sich offen über Bismarcks Rücktritt 1890. Hier betont er den Schaden, den die Skrupellosigkeit des Ex-Kanzlers und der „blinde Autoritätskultus“ angerichtet hätten. Der Soziologe Max Weber (1864-1920) macht aus der Sicht von 1917 geltend, dass Bismarck das deutsche Volk völlig ohne politische Erziehung zurückließ. Weber lässt kein gutes Haar an denen, die nach Bismarcks Abtritt das politische Vakuum zu füllen versuchten. Sie taten dies, so schreibt er, mit „erstaunlicher Unbefangenheit“. Doch Bismarcks Verhalten und Politik während seiner Regierungszeit entmachteten das Parlament, förderten eine übermächtige Bürokratie und hinterließen die Deutschen vollkommen unvorbereitet, die Zügel der Macht zu ergreifen, falls sich die Gelegenheit dazu ergeben sollte (wie dies schließlich am 9. November 1918 geschah).

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I. Eugen Richter über Bismarcks Regierungssystem (März 1890)


Die Entlassung des Reichskanzlers Fürsten Bismarck ist vollendete Tatsache. Gott sei Dank, daß er fort ist! so sagen wir heute ebenso aufrichtig, wie wir ihm gegenüber stets gewesen sind. Es wäre ein Segen für das Reich gewesen, wenn er schon viel früher beseitigt worden wäre. Nicht um der Person willen sagen wir dies, sondern wegen des Regierungssystems, welches Fürst Bismarck befolgte. [ . . . ]

Es ist unsere innerste Überzeugung, daß eine Fortsetzung der bisherigen inneren Politik, wie sie namentlich seit 1877 begonnen, nach einem ebensolchen Zeitraum tatsächlich Deutschland in den Abgrund geführt haben würde. Daß bei den letzten Wahlen die deutsche Bevölkerung sich zu einem Fünftel zu einer republikanischen Partei bekannt hat, ist in der Hauptsache die Frucht des Bismarckschen Regierungssystems, welches nur zu sehr geeignet war, die Sozialdemokratie bald mittels dargereichten Zuckerbrotes, bald mittels der angewandten Peitsche künstlich großzuziehen. Dazu sind die konfessionellen Gegensätze verschärft worden, nach der einen Seite durch den mittels Polizei und Strafbestimmungen geführten kirchenpolitischen Kampf, nach der anderen Seite durch das Verhalten des Kanzlers zu der Entstehung der antisemitischen Bewegung. Das gewaltige Emporwuchern der Interessenparteien, welche rücksichtslos die Ausbeutung der Staatsgewalt auf Kosten des allgemeinen Wohles erstreben, ist zurückzuführen auf die Schutzzollpolitik und jene Schutzzollagitationen, zu welchen der Kanzler persönlich in jeder Weise aufgefordert und angereizt hat. Die Verhetzung der politischen Parteien untereinander, die Verdächtigung der Vaterlandsliebe, das Absprechen des Patriotismus für jeden politisch Andersdenkenden ist die Folge einer durch den Welfenfonds korrumpierten Presse und des Tones, welchen die Kanzlerpresse stets angeschlagen hat gegen alle, welche einmal andere Ansichten bekundeten als der Kanzler.

Nur die falsche Politik des Kanzlers hat das Anschwellen der Steuerlasten des Reiches in den letzten zehn Jahren um nahezu 400 Millionen, und zwar vorwiegend zuungunsten der minderwohlhabenden Klassen verschuldet. [ . . . ]

Die Volksvertretung wurde stets in der rücksichtslosesten Weise behandelt und in ihrem Ansehen herabgewürdigt, so oft sie dem Kanzler nicht zu Gefallen stimmte. [ . . . ]

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