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Eugen Richter und Max Weber über Bismarcks Vermächtnis (1890 und 1917/18)

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II. Max Weber über „ein völlig machtloses Parlament“ (1917/18)


Was war infolgedessen – für die uns hier interessierenden Seiten der Sache – Bismarcks politisches Erbe? Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, daß der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der mißbräuchlichen Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen Parteikampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der »monarchischen Regierung« fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leergelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen. An diesem Punkt lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen, noch auch nur ertragen. [ . . . ]

Demgegenüber nun als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges: ein völlig machtloses Parlament. Er selbst hat sich bekanntlich dessen als eines Fehlers angeklagt, als er nicht mehr im Amte war und die Konsequenzen an seinem eigenen Schicksal erfahren hatte. Jene Machtlosigkeit bedeutete aber zugleich: ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau. Zwar die naive moralisierende Legende unserer unpolitischen Literaten denkt sich die ursächliche Beziehung vielmehr gerade umgekehrt: weil das Niveau des Parlamentslebens niedrig gewesen und geblieben sei, deshalb sei es, und zwar verdientermaßen, machtlos geblieben. Höchst einfache Tatsachen und Erwägungen zeigen aber den wirklichen Sachverhalt, der sich übrigens für jeden nüchtern Denkenden von selbst versteht. Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, – ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein.



Quelle: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München und Leipzig, 1918; abgedruckt in Max Weber, Gesammelte politische Schriften, Hg. Johannes Wickelmann. 2. erweiterte Aufl. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck), 1958, S. 307-08.

Auch abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Hg., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 262-63.

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