GHDI logo

Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

Seite 23 von 27    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


V.

Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken.

Dem sinnlichen Betrachter der Geschichte, der in ihr Gott verlor und an der Vorsehung zu zweifeln anfing, geschah dies Unglück nur daher, weil er die Geschichte zu flach ansah, oder von der Vorsehung keinen rechten Begriff hatte. Denn wenn er diese für ein Gespenst hält, das ihm auf allen Straßen begegnen und den Lauf menschlicher Handlungen unaufhörlich unterbrechen soll, um nur diesen oder jenen partikularen Endzweck seiner Phantasie und Willkür zu erreichen, so gestehe ich, daß die Geschichte das Grab einer solchen Vorsehung sei; gewiß aber ein Grab zum Besten der Wahrheit. Denn was wäre es für eine Vorsehung, die jeder zum Poltergeist in der Ordnung der Dinge, zum Bundsgenossen seiner eingeschränkten Absicht, zum Schutzverwandten seiner kleinfügigen Torheit gebrauchen könnte; so daß das Ganze zuletzt ohne einen Herren bliebe? Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, und seine Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, daß sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbaret. Alles, was auf der Erde geschehen kann, muß auf ihr geschehen, sobald es nach Regeln geschieht, die ihre Vollkommenheit in ihnen selbst tragen. Lasset uns diese Regeln, die wir bisher entwickelt haben, sofern sie die Menschengeschichte betreffen, wiederholen; sie führen alle das Gepräge einer weisen Güte, einer hohen Schönheit, ja der innern Notwendigkeit selbst mit sich.

1. Auf unsrer Erde belebte sich alles, was sich auf ihr beleben konnte: denn jede Organisation trägt in ihrem Wesen eine Verbindung mannigfaltiger Kräfte, die sich einander beschränken und in dieser Beschränkung ein Maximum zur Dauer gewinnen konnten, in sich. Gewannen sie dies nicht, so trennten sich die Kräfte und verbanden sich anders.

2. Unter diesen Organisationen stieg auch der Mensch hervor, die Krone der Erdenschöpfung. Zahllose Kräfte verbanden sich in ihm und gewannen ein Maximum, den Verstand, so wie ihre Materie, der menschliche Körper, nach Gesetzen der schönsten Symmetrie und Ordnung, den Schwerpunkt. Im Charakter des Menschen war also zugleich der Grund seiner Dauer und Glückseligkeit, das Gepräge seiner Bestimmung und der ganze Lauf seines Erdenschicksals gegeben.

3. Vernunft heißt dieser Charakter der Menschheit: denn er vernimmt die Sprache Gottes in der Schöpfung, d. i. er sucht die Regel der Ordnung, nach welcher die Dinge zusammenhangend auf ihr Wesen gegründet sind. Sein innerstes Gesetz ist also Erkenntnis der Existenz und Wahrheit, Zusammenhang der Geschöpfe nach ihren Beziehungen und Eigenschaften. Er ist ein Bild der Gottheit, denn er erforschet die Gesetze der Natur, die Gedanken, nach denen der Schöpfer sie verband, und die er ihnen wesentlich machte. Die Vernunft kann also ebensowenig willkürlich handeln, als die Gottheit selbst willkürlich dachte.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite