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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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4. Vom nächsten Bedürfnis fing der Mensch an, die Kräfte der Natur zu erkennen und zu prüfen. Sein Zweck dabei ging nicht weiter als auf sein Wohlsein, d. i. auf einen gleichmäßigen Gebrauch seiner eignen Kräfte in Ruhe und Übung. Er kam mit andern Wesen in ein Verhältnis, und auch jetzt ward sein eignes Dasein das Maß dieser Verhältnisse. Die Regel der Billigkeit drang sich ihm auf; denn sie ist nichts als die praktische Vernunft, das Maß der Wirkung und Gegenwirkung zum gemeinschaftlichen Bestande gleichartiger Wesen.

5. Auf dies Principium ist die menschliche Natur gebauet, so daß kein Individuum eines andern oder der Nachkommenschaft wegen da zu sein glauben darf. Befolget der Niedrigste in der Reihe der Menschen das Gesetz der Vernunft und Billigkeit, das in ihm liegt, so hat er Konsistenz, d. i. er genießet Wohlsein und Dauer, er ist vernünftig, billig, glücklich. Dies ist er nicht vermöge der Willkür andrer Geschöpfe oder des Schöpfers, sondern nach den Gesetzen einer allgemeinen, in sich selbst gegründeten Naturordnung. Weichet er von der Regel des Rechts, so muß sein strafender Fehler selbst ihm Unordnung zeigen und ihn veranlassen, zur Vernunft und zur Billigkeit als den Gesetzen seines Daseins und Glücks zurückzukehren.

6. Da seine Natur aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, so tut er dieses selten auf dem kürzesten Wege; er schwankt zwischen zwei Extremen, bis er sich selbst gleichsam mit seinem Dasein abfindet und einen Punkt der leidlichen Mitte erreicht, in welchem er sein Wohlsein glaubet. Irrt er hiebei, so geschiehet es nicht ohne sein geheimes Bewußtsein, und er muß die Folgen seiner Schuld tragen. Er trägt sie aber nur bis zu einem gewissen Grad, da sich entweder das Schicksal durch seine eigenen Bemühungen zum Bessern wendet, oder sein Dasein weiterhin keinen innern Bestand findet. Einen wohltätigern Nutzen konnte die höchste Weisheit dem physischen Schmerz und dem moralischen Übel nicht geben; denn kein höherer ist denkbar.

7. Hätte auch nur ein einziger Mensch die Erde betreten, so wäre an ihm der Zweck des menschlichen Daseins erfüllt gewesen, wie man ihn bei so manchen einzelnen Menschen und Nationen für erfüllt achten muß, die durch Ort- und Zeitbestimmungen von der Kette des ganzen Geschlechts getrennet wurden. Da aber alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungsstande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht, wie alle Geschlechte der Lebenden, Kräfte der Fortpflanzung in sich, die dem Ganzen gemäß ihre Proportion und Ordnung finden konnten und gefunden haben. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hinunter. Allmählich ward die Erde erfüllt, und der Mensch ward alles, was er in solchem und keinem andern Zeitraum auf der Erde werden konnte.

8. Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander: nicht, als ob sie in jedem Einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgend existieret, folglich auch nicht der Zweck des Schöpfers sein konnte, sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte. Wie sich die Menschen fortpflanzen, pflanzen die Tiere sich auch fort, ohne daß eine allgemeine Tiervernunft aus ihren Geschlechtern werde; aber weil Vernunft allein den Beharrungsstand der Menschheit bildet, mußte sie sich als Charakter des Geschlechts fortpflanzen; denn ohne sie war das Geschlecht nicht mehr.

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