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Walther Rathenau, „Höre, Israel!” (1897)

Walter Rathenau (1867-1922), der Sohn des Gründers der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG), war einer der bedeutendsten deutschen Juden seiner Generation. Mit diesem Artikel, der 1897 in der Zeitschrift „Die Zukunft“ erschien, wollte Rathenau die Juden dazu ermutigen, sich stärker für ihre gesellschaftliche Assimilierung einzusetzen. In Reaktion auf eine neu aufkommende Woge des Antisemitismus in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der 1890er Jahre untersucht Rathenau die Integrationsversuche der Juden, die er trotz der vielen von ihm wahrgenommenen Gemeinsamkeiten zwischen aufgeklärtem Judentum und deutschem Protestantismus als gescheitert ansah. Rathenau, der im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielte und in der Weimarer Republik ein bedeutendes Kabinettsmitglied war, wurde 1922 von zwei radikalen Nationalisten ermordet.

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Von vornherein will ich bekennen, daß ich Jude bin. Bedarf es einer Rechtfertigung, wenn ich in anderem Sinne schreibe als dem der Judenverteidigung? Viele meiner Stammesgenossen kennen sich nur als Deutsche, nicht als Juden. Einzelne, zumal solche, die, durch Beruf und Neigung veranlaßt, weniger mit ihresgleichen als mit Stammesdeutschen zu schaffen haben, von denen sie sich auch äußerlich nicht mehr allzusehr unterscheiden mögen, sind ehrlich genug, den Fahnen ihrer philosemitischen Beschützer nicht länger zu folgen. Ihnen schließe ich mich an.

Die Philosemiten pflegen zu verkünden: »Es gibt keine Judenfrage. Wenn die Juden ihr Land schädigen, so geschieht es durch unzulässige Handlungen einzelner. Hiergegen schaffe man Gesetze oder verschärfe die bestehenden.« Sie haben nicht unrecht. Die Beantwortung der wirtschaftlichen Frage ist Sache der Gesetzgebung. Aber von der wirtschaftlichen Frage will ich nicht sprechen.

Drohender erhebt sich die gesellschaftliche, die Kulturfrage. Wer ihre Sprache vernehmen will, mag an Berliner Sonntagen mittags um zwölf durch die Tiergartenstraße gehen oder abends in den Vorraum eines Theaters blicken. Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde. Die gezwungene Heiterkeit dieser Menschen verrät nicht, wieviel alter, ungesättigter Haß auf ihren Schultern lastet. Sie ahnen nicht, daß nur ein Zeitalter, das alle natürlichen Gewalten gefesselt hält, sie vor dem zu beschützen vermag, was ihre Väter erlitten haben. In engem Zusammenhang unter sich, in strenger Abgeschlossenheit nach außen – : so leben sie in einem halb freiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe.

Es frommt nicht, zu forschen, wie das geschah und auf welcher Seite die Schuld liegt. Das Leben fragt nach dem, was ist; und die Geschichte gibt dem Unterliegenden Unrecht.

Es besteht die unbestreitbare Wahrheit, daß die besten Deutschen einen tiefen Widerwillen gegen jüdisches Wesen und Treiben hegen, die am meisten, die nicht viel Worte davon machen und etliche Ausnahmen – gleichsam als seltsame Naturspiele – zugeben. Und wenn die Juden über Breite und Tiefe der Strömung sich zu täuschen trachten – ein beklommenes Gefühl der Einengung und Verlassenheit werden sie nicht los. Der alte Herrlichkeitgedanke ist verrauscht und sehnsüchtiger, als sie es gestehen, blicken sie aus nach Versöhnung. Aber das Meer der Abgeschlossenheit will sich vor keinem Zauberspruch zerteilen.

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