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Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” (1784)

In den 1770er Jahren trat Immanuel Kant (1724-1804) als Philosoph von europäischem Rang in Erscheinung. Er übte umfassenden Einfluss auf das deutsche Kultur- und Geistesleben aus, insbesondere mit seiner Argumentation für den Aufbau von Wissen und der Welt durch das autonome Wirken der menschlichen Vernunft und Moralvorstellungen (im Gegensatz zur Lockeschen Tradition, die dem menschlichen Geist die eher passive Funktion zuschrieb, die Rationalität der wahrgenommenen Welt zu reflektieren). Dieser berühmte Aufsatz ist ein Grundlagendokument des deutschen Liberalismus, indem er sich für geistige Freiheit und Meinungsfreiheit als Mittel ausspricht, durch das der Mensch moralische und staatsbürgerliche Selbstbestimmung erlangt. In dem Maße, in dem der aufgeklärte Staat (und Kant dachte dabei an das Preußen Friedrichs II.) freie Nachforschung und Meinungsäußerung erlaubt, wird ein allmählicher Wandel des monarchischen Absolutismus zur Selbstregierung durch die gebildeten und besitzenden Klassen – also im Sinne des liberalen im Gegensatz zum volksdemokratischen Ideal – denkbar und erstrebenswert.

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Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

Immanuel Kant


Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

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