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Franz Perrots „Ära-Artikel” attackieren Bismarcks Ministerium, die Liberalen und die Juden (29. Juni – 1. Juli 1875)

Franz Perrot (1833-1891) war ein antisemitischer konservativer Schriftsteller, der im führenden Organ seiner Partei, der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung, eine Reihe von Artikeln veröffentlichte, die sich zum Kassenschlager entwickelten. Geschrieben wurden sie als Reaktion auf die Skandale der „Gründerzeit“ (1871-1873) und den scheinbaren Triumph liberaler Ansichten in der deutschen Regierungspolitik. Wie Otto Glagau (1834-1892) einige Monate zuvor – in einem weiteren, in diese Sammlung aufgenommenen Dokument –, macht Perrot die Juden für die wirtschaftliche Krise Deutschlands verantwortlich; er greift die Wirtschaftspolitik der Regierung an, und er verweist namentlich auf führende Personen aus Bismarcks engstem Beraterkreis. Dazu zählen Gerson Bleichröder (1822-1893), Bismarcks jüdischer Bankier; Otto Camphausen (1812-1896), ein vormaliger Präsident der Preußischen Seehandlung und liberaler Finanzminister; und Rudolf Delbrück (1817-1903), einer der fähigsten Verwaltungs- und Wirtschaftsexperten Preußens und Bismarcks Stellvertreter im Reichskanzleramt. Diese Artikel trugen 1875-1876 zum heftigen, aber kurzlebigen Bruch Bismarcks mit seinen früheren konservativen Verbündeten bei.

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Ära-Artikel.
Vom 29. Juni 1875.

I.

Selten, vielleicht niemals in der Weltgeschichte, ist eine Zeitperiode für eine großartig angelegte National-Wirtschaftspolitik günstiger gewesen, als die Zeit nach dem Kriege von 1870/71 es für Deutschland gewesen ist.

Vielleicht niemals vorher in der deutschen Geschichte war ein Zeitpunkt mehr darauf angelegt, für die bleibende Wohlfahrt der Nation großartig schöpferisches zu leisten, als seit den letzten vier Jahren, – und vielleicht niemals ein großer staatswirtschaftlicher Moment kläglicher frustriert, bedauerlicher verkümmert, vollständiger verpfuscht worden, als die Zeit der französischen Milliardenzahlungen in Deutschland.

Das unersterbliche Verdienst, diese allerdings äußerst hervorragenden Resultate unserer neuesten deutschen National-Wirtschaftspolitik erzielt zu haben, dürfte allerdings den Herren Delbrück und Camphausen beizumessen sein.

In der kürzlich stattgehabten 77. Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses hat Herr Camphausen freilich dem Herrn v. Kardorff repliziert, daß er „seinem Freunde Delbrück gegenüber“ darauf verzichte, für den „intellektuellen Urheber unserer ganzen Wirtschaftspolitik“ angesehen zu werden. Wir sind jedoch nicht völlig gewiß, ob nicht auch für Herrn Delbrück der Zeitpunkt eintreten wird, wo er die Ehre dieser „intellektuellen Urheberschaft“ gerne von sich ablehnen möchte, – und nach unserer Kenntnis der Verhältnisse dürfte die Ehre dieser „intellektuellen Urheberschaft“ allerdings auch Herrn Delbrück kaum völlig, ja wohl nicht einmal in der Hauptsache zur Last gelegt werden können, – diese Ehre wird doch wohl in letzter Instanz von dem großen finanziellnationalwirtschaftlichen spiritus familiaris des neudeutschen Reiches, dem – Herrn v. Bleichröder in Anspruch genommen werden müssen. Es erscheint durchaus notwendig, das deutsche Publikum möglichst vollständig über die enormen Verdienste des Herrn G. v. Bleichröder aufzuklären, da er in ungemein richtig berechneter Bescheidenheit äußerst sorgfältig vermeidet, seine außerordentlichen Verdienste um die neudeutsche Nationalwirtschaft und die möglichst spurlose Verduftung der Milliarden an das Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen. Und da die große sog. „nationalliberale“ Presse sich vorzugsweise in Händen seiner Glaubensgenossen, oder von ihnen mehr oder minder direkt oder indirekt abhängiger Leute befindet, so ist die Absicht seiner Bescheidenheit bisher durchaus von Erfolg gekrönt worden.

Herr G. v. Bleichröder ist nämlich, wie wir in Parenthese hinzufügen, mosaischen Glaubens und regierender Bankier, welches erstere übrigens nahezu von selbst aus letzterem folgt, da z. B. 1861 in Preußen von 642 Bankiers nur 92 Christen, die übrigen 550 dagegen Juden gewesen sind. Dies jedoch, wie gesagt, in Parenthese.

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