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Henrik Ibsens „Ballonbrief” bringt die Furcht vor dem deutschen Militarismus zum Ausdruck (Dezember 1870)

Anfang Dezember 1870, drei Monate nach der französischen Niederlage in der Schlacht von Sedan (1.-2. September), stand Paris unter Belagerung, eingeschlossen von deutschen Truppen, die entschlossen waren, den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 so schnell wie möglich zu einem offiziellen Ende zu bringen. Ende Dezember befahl Bismarck das Bombardement der Stadt – eine Entscheidung, die dazu beitrug, die Meinung der Weltöffentlichkeit gegen die Preußen zu wenden. Die Ansicht, dass die preußische Brutalität gegen Paris das wahre Wesen des „deutschen Systems“ offen legte, kam im „Ballonbrief“ zum Ausdruck, dem unten nachzulesenden Gedicht. (Zu beachten ist, dass das Gedicht aus Propagandagründen in der Ausgabe August-November-Ausgabe der English Review von 1914 übersetzt und veröffentlicht wurde, dem ersten Heft nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs.) Das Gedicht – dessen Titel sich auf die Pariser bezieht, die die belagerte Stadt in Heißluftballons verließen – wurde im Dezember 1870 von Henrik Ibsen (1828-1906) verfasst, dem norwegischen Schriftsteller, der mit seinen naturalistischen Dramen Peer Gynt (1876), Nora oder Ein Puppenheim (1879) und Gespenster (1881) Bekanntheit erlangte. Zu diesem Zeitpunkt lebte er in der sächsischen Hauptstadt Dresden. Ibsens gereimte Epistel hat die Form eines an Fru Frederika Limnell in Stockholm gerichteten „Briefs“. Seiner Meinung nach steht die Belagerung von Paris beispielhaft für den Unterschied zwischen dem deutschen Volk, für das er hohe Wertschätzung hegt, und dem „deutschen System“, das er nicht nur als brutal im Krieg ansieht, sondern auch als Ursache für das Abtöten der Persönlichkeit und die „Ermordung“ von Dichtkunst und Gesang. Die folgenden Passagen zeigen Ibsens Reaktion auf die deutschen Presseberichte aus dem entfernten Frankreich: sie „Servieren mir ein Gericht / So reizend wie französisches Rattenragout“. Ibsens Empörung geht Friedrich Nietzsches „unzeitgemäßen Betrachtungen“ über die Verkennung der kriegerischen Siege Deutschlands 1870 durch die bürgerlichen Philister zeitlich voraus, doch Ibsens Ansichten entsprechen fast genau denjenigen des deutschen Philosophen – eine Ähnlichkeit, die beispielsweise in seinen Worten „Gerade in dem Sieg liegt Niederlage; / Preußens Schwert erweist als Preußens Geißel sich. / Niemals des Dichters Inspiration / Entfaltet sich aus Problemen, die von ihnen gelöst“ zu erkennen ist.

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Ballonbrief an eine schwedische Dame


[ . . . ]

Hier ergeht es mir präzis
Wie den Leuten in Paris.
Dicker deutscher Ideologen.
Weltumsturz auf Zeitungsbogen,
Fahnenhissen, Hurraschrein,
Ein „Gesang“: „Die Wacht am Rhein“ –
Ist der Ring, um mich gezogen.
Traun, es wird in diesem Kreis
Ihrem Freund oft kalt und heiß.
Wackre Bierbankdiplomaten
Schmor’n ihm seinen Hundebraten,
Und in unsres Stadtblatts Spalten,
Wo Versköche rastlos walten,
Stellt die Hauskost weit in Schatten
Gallische Ragouts von Ratten. –

[ . . . ]

Also Not, warum’s verschweigen,
War’s im Grunde, was mich trieb,
Daß ich diese Zeilen schrieb;
Mag der Luftballon denn steigen.
Tauben waren nicht zu haben;
Sind sie Hoffnungsvögel doch,
Und in diesem klammen Loch
Hausen Eulen nur und Raben.
Doch durch solche Nachtgesellen
Kann man Damen nichts bestellen.

[ . . . ]

Groß ist dies schier unbedingt;
Offen steht der Menschheit Mund; –
Ob aus diesem offnen Rund
Auch zugleich ein Aber springt.
Wie ein Zweifel ringt sich’s los:
Ist dies Große wirklich groß? –
Ja, was macht ein Werk wohl groß?
Nicht, was es an Großem wirkt,
Sondern was in seinem Schoß
An Persönlichem sich birgt.

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