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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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am 30. May.

Was ich dir neulich von der Mahlerei sagte, gilt gewiß auch von der Dichtkunst; es ist nur daß man das vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freylich mit wenigem viel gesagt. Ich habe heut eine Scene gehabt, die, rein abgeschrieben die schönste Idylle von der Welt gäbe; doch was soll Dichtung, Scene und Idylle? muß es denn immer geboßelt seyn, wenn wir Theil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?

Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest, so bist du wieder übel betrogen; es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften Theilnehmung hingerissen hat – ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen, und du wirst mich, wie gewöhnlich, denk ich, übertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und immer Wahlheim das diese Seltenheiten hervorbringt.

Es war eine Gesellschaft draussen unter den Linden Caffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem Vorwande zurück.

Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause und beschäftigte sich an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach seinen Umständen, wir waren bald bekannt, und wie mir’s gewöhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzählte mir, daß er bey einer Wittwe in Diensten sey und von ihr gar wohl gehalten werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, daß ich bald merken konnte, er sey ihr mit Leib und Seele zugethan. Sie sey nicht mehr jung, sagte er, sie sey von ihrem ersten Mann übel gehalten worden, wolle nicht mehr heirathen und aus seiner Erzählung leuchtete so merklich hervor, wie schön, wie reizend sie für ihn sey, wie sehr er wünsche, daß sie ihn wählen möchte, um das Andenken der Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen, daß ich Wort für Wort wiederhohlen müßte, um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu machen. Ja, ich müßte die Gabe des größten Dichters besitzen, um dir zugleich den Ausdruck seiner Geberden, die Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu können. Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich wieder vorbringen könnte. Besonders rührte mich, wie er fürchtete, ich möchte über sein Verhältniß zu ihr ungleich denken und an ihrer guten Aufführung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in meiner innersten Seele wiederhohlen. Ich hab in meinem Leben die dringende Begierde und das heiße sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bey der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.

Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn ichs recht bedenke, ich wills vermeiden. Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir vor meinen eignen Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum soll ich mir das schöne Bild verderben?

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