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Johann Gottlieb Fichte, „Reden an die deutsche Nation” (1807/08)

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Das war im ganzen das Verhältniß des Urvolks der neuen Welt zum Fortgange der Bildung dieser Welt, daß das erstere durch unvollständige und auf der Oberfläche verbleibende Bestrebungen des Auslandes erst angeregt werde zu tiefern aus seiner eignen Mitte heraus zu entwikelnden Schöpfungen. Da von der Anregung bis zur Schöpfung es ohne Zweifel seine Zeit dauert, so ist klar, daß ein solches Verhältniß Zeiträume herbei führen werde, in welchen das Urvolk fast ganz mit dem Auslande verflossen, und demselben gleich erscheinen müsse, weil es nemlich gerade im Zustande des bloßen Angeregtseyns sich befindet, und die dabei beabsichtigte Schöpfung noch nicht zum Durchbruche gekommen ist. In einem solchen Zeitraume befindet sich nun gerade jezt Deutschland in Absicht der großen Mehrzahl seiner gebildeten Bewohner, und daher rühren die durch das ganze innere Wesen und Leben dieser Mehrzahl verflossenen Erscheinungen der Ausländerei. Die Philosophie, als freies, von allen Fesseln des Glaubens an fremdes Ansehen erledigtes Denken, sey es, wodurch dermalen das Ausland sein Mutterland anrege, haben wir in der vorigen Rede ersehen. Wo es nun von dieser Anregung aus nicht zur neuen Schöpfung gekommen, welches, da die lezte von der großen Mehrzahl unvernommen geblieben, bei äußerst wenigen der Fall ist: da gestaltet sich theils noch jene, schon früher bezeichnete Philosophie des Auslandes selber zu andern und andern Formen; theils bemächtiget sich der Geist derselben auch der übrigen an die Philosophie zunächst gränzenden Wissenschaften, und sieht an dieselben aus seinem Gesichtspunkte; endlich, da der Deutsche seinen Ernst, und sein unmittelbares Eingreifen in das Leben doch niemals ablegen kann, so fließt diese Philosophie ein auf die öffentliche Lebensweise, und auf die Grundsätze und Regeln derselben. Wir werden dies Stück für Stück darthun.

Zuförderst und vor allen Dingen: der Mensch bildet seine wissenschaftliche Ansicht nicht etwa mit Freiheit und Willkühr, so oder so, sondern sie wird ihm gebildet durch sein Leben, und ist eigentlich die zur Anschauung gewordene innere, und übrigens ihm unbekannte Wurzel seines Lebens selbst. Was du so recht innerlich eigentlich bist, das tritt heraus vor dein äußeres Auge, und du vermöchtest niemals etwas anderes zu sehen. Solltest du anders sehen, so müßtest du erst anders werden. Nun ist das innere Wesen des Auslandes, oder der Nichtursprünglichkeit, der Glaube an irgend ein leztes, festes, unveränderlich stehendes, an eine Grenze, diesseit welcher zwar das freie Leben sein Spiel treibe, welche selbst aber es niemals zu durchbrechen, und durch sich flüßig zu machen, und sich in dieselbe zu verflößen vermöge. Diese undurchdringliche Grenze tritt ihm darum irgendwo nothwendig auch vor die Augen, und es kann nicht anders denken oder glauben, außer unter Voraussetzung einer solchen, wenn nicht sein ganzes Wesen umgewandelt, und sein Herz ihm aus dem Leibe gerissen werden soll. Es glaubt nothwendig an den Tod, als das ursprüngliche, und lezte, den Grundquell aller Dinge, und mit ihnen des Lebens.

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