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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Kritik der Verfassung Deutschlands”, unveröffentlichtes Manuskript (1800-1802)

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Es würde aber derjenige, der das was in Deutschland zu geschehen pflegt, nach den Begriffen dessen was geschehen soll, nemlich nach den Staatsgesezen, kennen lernen wollte, aufs höchste irren; denn die Auflösung des Staats erkennt sich vorzüglich daran, wenn alles anders geht, als die Gesetze; [ . . . ]denn eben um ihrer Begriffe willen erscheinen die Deutschen so unredlich, nichts zu gestehen, wie es ist, [ . . . ] sie bleiben ihren Begriffen, dem Rechte und den Gesetzen getreu, aber die Begebenheiten pflegen nicht damit übereinzustimmen, [ . . . ] der Begriff aber, der die übrigen in sich schließt, ist, daß Deutschland überhaupt noch itzt ein Staat sey, weil es ehmals ein Staat gewesen; und noch die Formen, aus denen das belebende derselben entflohen ist, vorhanden sind.

Die Organisation dieses Körpers, welche die deutsche Staatsverfassung heißt, hatte sich in einem ganz anderen Leben gebildet, als nachher und itzt in ihm wohnte; die Gerechtigkeit und Gewalt, die Weisheit und die Tapferkeit verflossener Zeiten, die Ehre und das Blut, das Wohlseyn und die Noth längst verwester Geschlechter und mit ihnen untergegangener Sitten und Verhältnisse, ist in den Formen dieses Körpers ausgedrückt; der Verlauff der Zeit aber und der in ihr sich entwickelnden Bildung hat das Schicksal jener Zeit, und das Leben der itzigen von einander abgeschnitten; das Gebaüde, worin jenes Schicksal haußte, wird von dem Schicksal der itzigen nicht mehr getragen, und steht [ . . . ], isolirt von dem Geiste der Welt; wenn diese Gesetze ihr altes Leben verlohren haben, so hat die itzige Lebendigkeit sich nicht in Gesetze zu fassen gewußt; [ . . . ] und das Ganze ist zerfallen, der Staat ist nicht mehr. [ . . . ]


Diese Form des deutschen Staatsrechts …

Diese Form des deutschen Staatsrechts ist tief in dem gegründet, wodurch die Deutschen sich am berühmtesten gemacht haben, nemlich in ihrem Trieb zu Freyheit; dieser Trieb ist es, der die Deutschen, nachdem alle andre europäischen Völker sich der Herrschafft eines gemeinsamen Staates unterworfen haben, nicht zu einem gemeinschafftlicher Staatsgewalt sich unterwerfenden Volke werden ließ. Die Hartnäkkigkeit des deutschen Charakters hat sich nicht bis dahin überwinden lassen, daß die Einzelnen Theile ihre Besonderheiten der Gesellschafft aufgeopfert, sich alle in ein Allgemeines vereinigt, und die Freyheit in gemeinschafftlicher freyer Unterwürfigkeit unter eine oberste Staatsgewalt gefunden hätten.

[ . . . ] Die oberste Staatsmacht war unter den Europäischen Völkern eine allgemeine Gewalt, an der jedem eine Art von freyem und persönlichem Antheil zukam. Diesen freyen persönlichen von Willkühr abhängigen Antheil haben die Deutschen nicht in den freyen, von Willkühr unabhängigen Antheil verwandeln wollen, der in der Allgemeinheit und Kraft von Gesetzen besteht, sondern sie haben sich ihren spätesten Zustand ganz auf die Grundlage jenes Zustandes der nicht gesetzwidrigen, aber gesetzlosen Willkühr erbaut. Der spätere Zustand geht unmittelbar von jenem Zustand aus, worin die Nation, ohne ein Staat zu seyn, ein Volk ausmachte; in dieser Zeit der alten deutschen Freyheit, stand der Einzelne in seinem Leben und Thun für sich, er hatte seine Ehre und sein Schiksal, nicht auf dem Zusammenhang mit einem Stand, sondern auf ihm selbst beruhend;[ . . . ] zum Ganzen gehörte er durch Sitte, Religion, einen unsichtbaren lebendigen Geist, und einige wenige grosse Interesse, sonst in seiner Betriebsamkeit und That, ließ er sich nicht vom Ganzen beschränken, [ . . . ].

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