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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Also haben wir auch nicht zu zweifeln, daß jede gute Tätigkeit des menschlichen Verstandes notwendig einmal die Humanität befördern müsse und befördern werde. Seitdem der Ackerbau in Gang kam, hörte das Menschen- und Eichelnfressen auf; der Mensch fand, daß er von den süßen Gaben der Ceres humaner, besser, anständiger leben könne als vom Fleisch seiner Brüder oder von Eicheln, und ward durch die Gesetze weiserer Menschen gezwungen, also zu leben. Seitdem man Häuser und Städte bauen lernte, wohnte man nicht mehr in Höhlen; unter Gesetzen eines Gemeinwesens schlug man den armen Fremdling nicht mehr tot. So brachte der Handel die Völker näher aneinander; und je mehr er in seinem Vorteil allgemein verstanden wird, desto mehr müssen sich notwendig jene Mordtaten, Unterdrückungen und Betrugsarten vermindern, die immer nur Zeichen des Unverstandes im Handel waren. Durch jeden Zuwachs nützlicher Künste ist das Eigentum der Menschen gesichert, ihre Mühe erleichtert, ihre Wirksamkeit verbreitet; mithin notwendig der Grund zu einer weitern Kultur und Humanität gelegt worden. Welche Mühe z. B. ward durch die einzige Erfindung der Buchdruckerkunst abgetan! Welch ein größerer Umlauf der menschlichen Gedanken, Künste und Wissenschaften durch sie befördert! Wage es jetzt ein europäischer Kang-Ti und wolle die Literatur dieses Weltteils ausrotten; es ist ihm schlechterdings nicht möglich. Hätten Phönizier und Karthaginenser, Griechen und Römer diese Kunst gehabt, der Untergang ihrer Literatur wäre ihren Verwüstern nicht so leicht, ja beinahe unmöglich worden. Lasset wilde Völker auf Europa stürmen, sie werden unsre Kriegskunst nicht bestehen, und kein Attila wird mehr vom Schwarzen und Kaspischen Meer her bis an die Katalaunischen Felder reichen. Lasset Pfaffen, Weichlinge, Schwärmer und Tyrannen aufstehen, so viel da wollen; die Nacht der mittleren Jahrhunderte bringen sie nie mehr wieder. Wie nun kein größerer Nutzen einer menschlichen und göttlichen Kunst denkbar ist, als wenn sie uns Licht und Ordnung nicht nur gibt, sondern es ihrer Natur nach auch verbreitet und sichert: so lasset uns dem Schöpfer danken, daß er unserm Geschlecht den Verstand und diesem die Kunst wesentlich gemacht hat. In ihnen besitzen wir das Geheimnis und Mittel einer sichernden Weltordnung.

Auch darüber dürfen wir nicht sorgen, daß manche trefflich ersonnene Theorie, die Moral selbst nicht ausgenommen, in unserm Geschlecht so lange Zeit nur Theorie bleibe. Das Kind lernt viel, was nur der Mann anwenden kann; deswegen aber hat es solches nicht umsonst gelernet. Unbedachtsam vergaß der Jüngling, woran er sich einst mühsam erinnern wird, oder er muß es gar zum zweitenmal lernen. Bei dem immer erneueten Menschengeschlecht ist also keine aufbewahrte, ja sogar keine erfundene Wahrheit ganz vergeblich; spätere Zeitumstände machen nötig, was man jetzt versäumt, und in der Unendlichkeit der Dinge muß jeder Fall zum Vorschein kommen, der auf irgendeine Weise das Menschengeschlecht übet. Wie wir uns nun bei der Schöpfung die Macht, die das Chaos schuf, zuerst und sodann in ihm ordnende Weisheit und harmonische Güte gedenken: so entwickelt die Naturordnung des Menschengeschlechts zuerst rohe Kräfte; die Unordnung selbst muß sie der Bahn des Verstandes zuführen, und je mehr dieser sein Werk ausarbeitet, desto mehr siehet er, daß Güte allein dem Werk Dauer, Vollkommenheit und Schönheit gewähre.

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