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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Zweitens. Noch augenscheinlicher macht die Wohnung der Menschen den Fortgang unsres Geschlechts kennbar.

Wo sind die Zeiten, da die Völker wie Troglodyten hie und da in ihren Höhlen hinter ihren Mauern saßen, und jeder Fremdling ein Feind war? Da half, bloß und allein mit der Zeitenfolge, keine Höhle, keine Mauer; die Menschen mußten sich einander kennenlernen: denn sie sind allesamt nur ein Geschlecht auf einem nicht großen Planeten. Traurig gnug, daß sie sich einander fast allenthalben zuerst als Feinde kennenlernten und einander wie Wölfe anstaunten; aber auch dies war Naturordnung. Der Schwache fürchtete sich vor dem Stärkern, der Betrogne vor dem Betrüger, der Vertriebne vor dem, der ihn abermals vertreiben könnte, das unerfahrne Kind endlich vor jedem Fremden. Diese jugendliche Furcht indes und alles, wozu sie mißbraucht wurde, konnte den Gang der Natur nicht ändern: das Band der Vereinigung zwischen mehreren Nationen ward geknüpft, wenngleich durch die Roheit der Menschen zuerst auf harte Weise. Die wachsende Vernunft kann den Knoten brechen; sie kann aber das Band nicht lösen, noch weniger alle die Entdeckungen ungeschehen machen, die jetzt einmal geschehen sind. Moses und Orpheus, Homers und Herodots, Strabo und Plinius Erdgeschichte, was sind sie gegen die unsre? Was ist der Handel der Phönizier, Griechen und Römer gegen Europas Handel? Und so ist uns mit dem, was bisher geschehen ist, auch der Faden des Labyrinths in die Hand gegeben, was künftig geschehen werde. Der Mensch, solange er Mensch ist, wird nicht ablassen, seinen Planeten zu durchwandern, bis dieser ihm ganz bekannt sei; weder die Stürme des Meers, noch Schiffbrüche, noch jene ungeheuren Eisberge und Gefahren der Nord- und Südwelt werden ihn davon abhalten, da sie ihn bisher von den schwersten ersten Versuchen selbst in Zeiten einer sehr mangelhaften Schiffahrt nicht haben abhalten mögen. Der Funke zu allen diesen Unternehmungen liegt in seiner Brust, in der Menschennatur. Neugierde und die unersättliche Begierde nach Gewinn, nach Ruhm, nach Entdeckungen und größerer Stärke, selbst neue Bedürfnisse und Unzufriedenheiten, die im Lauf der Dinge, wie sie jetzt sind. unwidertreiblich liegen, werden ihn dazu aufmuntern, und die Gefahrenbesieger der vorigen Zeit, berühmte glückliche Vorbilder, werden ihn noch mehr beflügeln. Der Wille der Vorsehung wird also durch gute und böse Triebfedern befördert werden, bis der Mensch sein ganzes Geschlecht kenne und darauf wirke. Ihm ist die Erde gegeben und er wird nicht nachlassen, bis sie, wenigstens dem Verstande und dem Nutzen nach, ganz sein sei. Schämen wir uns nicht jetzt schon, daß uns der halbe Teil unsres Planeten, als ob er die abgekehrte Seite des Mondes wäre, so lange unbekannt geblieben?

Drittens. Alle bisherige Tätigkeit des menschlichen Geistes ist kraft ihrer innern Natur auf nichts anders als auf Mittel hinausgegangen, die Humanität und Kultur unsres Geschlechts tiefer zu gründen und weiter zu verbreiten.

Welch ein ungeheurer Fortgang ists von der ersten Flöße, die das Wasser bedeckte, zu einem europäischen Schiff! Weder der Erfinder jener, noch die zahlreichen Erfinder der mancherlei Künste und Wissenschaften, die zur Schiffahrt gehören, dachten daran, was aus der Zusammensetzung ihrer Entdeckungen werden würde; jeder folgte seinem Triebe der Not oder der Neugierde, und nur in der Natur des menschlichen Verstandes, des Zusammenhanges aller Dinge lags, daß kein Versuch, keine Entdeckung vergebens sein konnte. Wie das Wunder einer andern Welt staunten jene Insulaner, die nie ein europäisches Schiff gesehen hatten, dies Ungeheuer an und verwunderten sich noch mehr, da sie bemerkten, daß Menschen wie sie es nach Gefallen über die wilde Meerestiefe lenkten. Hätte ihr Anstaunen zu einer vernünftigen Überlegung jedes großen Zwecks und jedes kleinen Mittels in dieser schwimmenden Kunstwelt werden können, wie höher wäre ihre Bewunderung des menschlichen Verstandes gestiegen! Wohin reichen anjetzt nicht bloß durch dies eine Werkzeug die Hände der Europäer? Wohin werden sie künftig nicht reichen?

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