GHDI logo

Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

Seite 19 von 27    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Im Fortgange der Zeiten liegt also ein Fortgang des Menschengeschlechts, sofern dies auch in die Reihe der Erde- und Zeitkinder gehöret. Erschiene jetzt der Vater der Menschen und sähe sein Geschlecht, wie würde er staunen! Sein Körper war für eine junge Erde gebildet, und nach der damaligen Beschaffenheit der Elemente mußte sein Bau, seine Gedankenreihe und Lebensweise sein; mit sechs und mehr Jahrtausenden hat sich gar manches hierin verändert. Amerika ist in vielen Strichen jetzt schon nicht mehr, was es bei seiner Entdeckung war; in ein paar Jahrtausenden wird man seine alte Geschichte wie einen Roman lesen. So lesen wir die Geschichte der Eroberung Trojas und suchen ihre Stelle, geschweige das Grab des Achilles oder den gottgleichen Helden selbst vergebens. Es wäre zur Menschengeschichte ein schöner Beitrag, wenn man mit unterscheidender Genauigkeit alle Nachrichten der Alten von ihrer Gestalt und Größe, von ihren Nahrungsmitteln und dem Maß ihrer Speisen, von ihren täglichen Beschäftigungen und Arten des Vergnügens, von ihrer Denkart über Liebe und Ehe, über Leidenschaften und Tugend, über den Gebrauch des Lebens und das Dasein nach diesem Leben ort- und zeitgemäß sammlete. Gewiß würde auch schon in diesen kurzen Zeiträumen ein Fortgang des Geschlechts bemerkbar, der ebensowohl die Bestandheit der ewig jungen Natur als die fortwirkenden Veränderungen unsrer alten Mutter Erde zeigte. Diese pflegt der Menschheit nicht allein; sie trägt alle ihre Kinder auf einem Schoß, in denselben Mutterarmen; wenn eins sich verändert, müssen sie sich alle verändern.

Daß dieser Zeitenfortgang auch auf die Denkart des Menschengeschlechts Einfluß gehabt habe, ist unleugbar. Man erfinde, man singe jetzt eine Iliade; man schreibe wie Äschylus, Sophokles und Plato; es ist unmöglich. Der einfache Kindersinn, die unbefangene Art, die Welt anzusehen, kurz, die griechische Jugendzeit ist vorüber. Ein gleiches ists mit Hebräern und Römern; dagegen wissen und kennen wir eine Reihe Dinge, die weder Hebräer noch Römer kannten. Ein Tag hat den andern, ein Jahrhundert das andre gelehrt: die Tradition ist reicher worden; die Muse der Zeiten, die Geschichte selbst spricht mit hundert Stimmen, singt aus hundert Flöten. Möge in dem ungeheuren Schneeball, den uns die Zeiten zugewälzt haben, soviel Unrat, soviel Verwirrung sein, als da will; selbst diese Verwirrung ist ein Kind der Jahrhunderte, die nur auf dem unermüdlichen Fortwälzen einer und derselben Sache entstehen konnte. Jede Wiederkehr also in die alten Zeiten, selbst das berühmte platonische Jahr ist Dichtung, es ist dem Begriff der Welt und Zeit nach unmöglich. Wir schwimmen weiter; nie aber kehrt der Strom zu seiner Quelle zurück, als ob er nie entronnen wäre.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite