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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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IV.

Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern.

Alle Zweifel und Klagen der Menschen über die Verwirrung und den wenig merklichen Fortgang des Guten in der Geschichte rühret daher, daß der traurige Wanderer auf eine zu kleine Strecke seines Weges siehet. Erweiterte er seinen Blick und vergliche nur die Zeitalter, die wir aus der Geschichte genauer kennen, unparteiisch miteinander, dränge er überdem in die Natur des Menschen und erwägte, was Vernunft und Wahrheit sei, so würde er am Fortgange derselben sowenig als an der gewissesten Naturwahrheit zweifeln. Jahrtausende durch hielt man unsre Sonne und alle Fixsterne für stillstehend; ein glückliches Fernrohr läßt uns jetzt an ihrem Fortrücken nicht mehr zweifeln. So wird einst eine genauere Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte unseres Geschlechts uns diese hoffnungsvolle Wahrheit nicht nur obenhin zeigen, sondern es werden sich auch, trotz aller scheinbaren Unordnung, die Gesetze berechnen lassen, nach welchen kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschiehet. Am Rande der alten Geschichte, auf dem ich jetzt wie in der Mitte stehe, zeichne ich vorläufig nur einige allgemeine Grundsätze aus, die uns im Verfolg unsres Weges zu Leitsternen dienen werden.

Erstens. Die Zeiten ketten sich kraft ihrer Natur aneinander; mithin auch das Kind der Zeiten, die Menschenreihe, mit allen ihren Wirkungen und Produktionen.

Durch keinen Trugschluß können wirs leugnen, daß unsre Erde in Jahrtausenden älter geworden sei, und daß diese Wandrerin um die Sonne seit ihrem Ursprunge sich sehr verändert habe. In ihren Eingeweiden sehen wir, wie sie einst beschaffen gewesen, und dürfen nur um uns blicken, wie wir sie jetzt beschaffen finden. Der Ozean brauset nicht mehr, ruhig ist er in sein Bette gesunken; die umherschweifenden Ströme haben ihre Ufer gefunden, und die Vegetation sowohl als die organischen Geschöpfe haben in ihren Geschlechtern eine fortwirkende Reihe von Jahren zurückgeleget. Wie nun seit der Erschaffung unsrer Erde kein Sonnenstrahl auf ihr verlorengegangen ist, so ist auch kein abgefallenes Blatt eines Baums, kein verflogener Same eines Gewächses, kein Leichnam eines modernden Tiers, noch weniger eine Handlung eines lebendigen Wesens ohne Wirkung geblieben. Die Vegetation z. B. hat zugenommen und sich, soweit sie konnte, verbreitet; jedes der lebendigen Geschlechter ist in den Schranken, die ihm die Natur durch andre Lebendige setzte, fortgewachsen, und sowohl der Fleiß des Menschen als selbst der Unsinn seiner Verwüstungen ist ein regsames Werkzeug in den Händen der Zeit worden. Auf dem Schutt seiner zerstörten Städte blühen neue Gefilde; die Elemente streueten den Staub der Vergessenheit darüber, und bald kamen neue Geschlechter, die von und über den alten Trümmern bauten. Die Allmacht selbst kann es nicht ändern, daß Folge nicht Folge sei; sie kann die Erde nicht herstellen zu dem, was sie vor Jahrtausenden war, so daß diese Jahrtausende mit allen ihren Wirkungen nicht dagewesen sein sollten.

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