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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Drittens. Zugleich ergibt sichs, daß, wo in der Menschheit das Ebenmaß der Vernunft und Humanität gestört worden, die Rückkehr zu demselben selten anders als durch gewaltsame Schwingungen von einem Äußersten zum andern geschehen werde. Eine Leidenschaft hob das Gleichgewicht der Vernunft auf, eine andre stürmt ihr entgegen, und so gehen in der Geschichte oft Jahre und Jahrhunderte hin, bis wiederum ruhige Tage werden. So hob Alexander das Gleichgewicht eines großen Weltstrichs auf, und lange noch nach seinem Tode stürmten die Winde. So nahm Rom der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den Frieden, und eine halbe Welt wilder Völker ward zur langsamen Wiederherstellung des Gleichgewichts erfordert. An den ruhigen Gang einer Asymptote war bei diesen Länder- und Völkererschütterungen gewiß nicht zu denken. Überhaupt zeigt der ganze Gang der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebirgen; dazu machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unsres Geschlechts auf dergleichen wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet worden. Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, und dennoch kommen wir mit jedem Schritt weiter: so ist der Fortschritt der Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Völkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendel zu beiden Seiten hinausschlägt. In steter Abwechselung erneuen sich die Geschlechter, und trotz aller Linearvorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch auf seine Weise weiter. Beflissentlich unterschied sich Aristoteles von Plato, Epikur von Zeno, bis die ruhigere Nachwelt endlich beide Extreme unparteiisch nutzen konnte. So gehet wie in der Maschine unsres Körpers durch einen notwendigen Antagonismus das Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhält desselben daurende Gesundheit. In welchen Abweichungen und Winkeln aber auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge, er entsprang aus dem ewigen Strome der Wahrheit, und kann sich kraft seiner Natur auf seinem Wege nie verlieren. Wer aus ihm schöpfet, schöpft Dauer und Leben.

Übrigens beruhet sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf ein und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unsres Wesens folget. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegeneinanderstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz also erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung; was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung.

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