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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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4. Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildeten Nationen, die wir bisher betrachtet haben und weiterhin betrachten werden. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im Ganzen stattfindet, so daß es der trüglichste Schluß wäre, wenn man von einer Vollkommenheit einer Nation auf jede andre schließen wollte. Weil Athen z. B. schöne Redner hatte, durfte es deshalb nicht auch die beste Regierungsform haben, und weil China so vortrefflich moralisieret, ist sein Staat noch kein Muster der Staaten. Die Regierungsform beziehet sich auf ein ganz andres Maximum, als ein schöner Sittenspruch oder eine pathetische Rede, obwohl zuletzt alle Dinge bei einer Nation, wenn auch nur ausschließend und einschränkend, sich in einen Zusammenhang finden. Kein andres Maximum als das vollkommenste Band der Verbindung macht die glücklichsten Staaten, gesetzt, das Volk müßte auch mancherlei blendende Eigenschaften dabei entbehren.

5. Auch bei einer und derselben Nation darf und kann nicht jedes Maximum ihrer schönen Mühe ewig dauren; denn es ist nur ein Punkt in der Linie der Zeiten. Unablässig rückte diese weiter, und von je mehreren Umständen die schöne Wirkung abhing, desto mehr ist sie dem Hingange und der Vergänglichkeit unterworfen. Glücklich, wenn ihre Muster alsdann zur Regel anderer Zeitalter bleiben; denn die nächstfolgenden stehen ihnen gemeiniglich zu nah, und sanken vielleicht sogar eben deshalb, weil sie solche übertreffen wollten. Eben bei dem regsamsten Volk gehet es oft in der schnellesten Abnahme vom siedenden bis zum Gefrierpunkt hinunter.

Die Geschichte einzelner Wissenschaften und Nationen hat diese Maxima zu berechnen, und ich wünschte, daß wir nur über die berühmtesten Völker in den bekanntesten Zeiten eine solche Geschichte besäßen; jetzt reden wir nur von der Menschengeschichte überhaupt und vom Beharrungsstande derselben in jeder Form, unter jedem Klima. Dieser ist nichts als Humanität, d. i. Vernunft und Billigkeit in allen Klassen, in allen Geschäften der Menschen. Und zwar ist er dies nicht durch die Willkür eines Beherrschers oder durch die überredende Macht der Tradition, sondern durch Naturgesetze, auf welchen das Wesen des Menschengeschlechts ruhet. Auch seine verdorbensten Einrichtungen rufen uns zu: »Hätten sich unter uns nicht noch Schimmer von Vernunft und Billigkeit erhalten, so wären wir längst nicht mehr, ja wir wären nie entstanden.« Da von diesem Punkt das ganze Gewebe der Menschengeschichte ausgeht, so müssen wir unsern Blick sorgfältig darauf richten.

Zuerst. Was ists, das wir bei allen menschlichen Werken schätzen und wonach wir fragen? Vernunft, Plan und Absicht. Fehlt diese, so ist nichts Menschliches getan; es ist eine blinde Macht bewiesen. Wohin unser Verstand im weiten Felde der Geschichte schweift, suchet er nur sich und findet sich selbst wieder. Je mehr er bei allen seinen Unternehmungen auf reine Wahrheit und Menschengüte traf, desto daurender, nützlicher und schöner wurden seine Werke, desto mehr begegnen sich in ihren Regeln die Geister und Herzen aller Völker in allen Zeiten. Was reiner Verstand und billige Moral ist, darüber sind Sokrates und Konfuzius, Zoroaster, Plato und Cicero einig: trotz ihrer tausendfachen Unterschiede haben sie alle auf einen Punkt gewirkt, auf dem unser ganzes Geschlecht ruhet. Wie nun der Wanderer kein süßeres Vergnügen hat, als wenn er allenthalben, auch wo ers nicht vermutete, Spuren eines ihm ähnlichen, denkenden, empfindenden Genius gewahr wird: so entzückend ist uns in der Geschichte unsres Geschlechts die Echo aller Zeiten und Völker, die in den edelsten Seelen nichts als Menschengüte und Menschenwahrheit tönet. Wie meine Vernunft den Zusammenhang der Dinge sucht, und mein Herz sich freuet, wenn sie solchen gewahr wird, so hat ihn jeder Rechtschaffene gesucht und ihn im Gesichtspunkt seiner Lage nur vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich bezeichnet. Wo er irrte, irrete er für sich und mich, indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet. Wo er mich zurechtweiset, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein Bruder, Teilnehmer an derselben Weltseele, der einen Menschenvernunft, der einen Menschenwahrheit.

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