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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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2. Da der einzelne Mensch für sich sehr unvollkommen bestehen kann, so bildet sich mit jeder Gesellschaft ein höheres Maximum zusammenwirkender Kräfte. In wilder Verwirrung laufen diese so lange gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschränken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werde. So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und ihrem innern Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich. Je reiner und schöner nun das Maximum war, auf welches ein Volk traf, auf je nützlichere Gegenstände es seine Übung schönerer Kräfte anlegte, je genauer und fester endlich das Band der Vereinigung war, das alle Glieder des Staats in ihrem Innersten knüpfte und sie auf diese guten Zwecke lenkte, desto bestehender war die Nation in sich, desto edler glänzt ihr Bild in der Menschengeschichte. Der Gang, den wir bisher durch einige Völker genommen, zeigte, wie verschieden nach Ort, Zeit und Umständen das Ziel war, auf welches sie ihre Bestrebungen richteten. Bei den Chinesen wars eine feine politische Moral, bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung, bei den Phöniziern der Geist der Schiffahrt und des handelnden Fleißes. Die Kultur der Griechen, insonderheit Athens, ging auf ein Maximum des Sinnlichschönen, sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der politischen Einrichtung. In Sparta und Rom bestrebte man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder Heldenpatriotismus, in beiden auf eine sehr verschiedene Weise. Da in diesem allen das meiste von Ort und Zeit abhangt, so sind in den auszeichnendsten Zügen des Nationalruhms die alten Völker einander beinahe unvergleichbar.

3. Indessen sehen wir bei allen ein Prinzipium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus Vielem Eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit Ebenmaß und daurender Schönheit hervorzubringen sich bestrebet. Von jenen unförmlichen Kunstfelsen, womit der Chinese seine Gärten verschönt, bis zur ägyptischen Pyramide oder zum griechischen Ideal ist allenthalben Plan und Absicht eines nachsinnenden Verstandes, obwohl in sehr verschiednen Graden, merkbar. Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art enthält und keine Abweichung zur Rechten oder zur Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lässet sich z. B. über eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken. Sie sind rein aufgelöste Probleme des menschlichen Verstandes in dieser Art, bei welchen keine willkürliche Dichtung, daß das Problem etwa auch nicht aufgelöset sei oder besser aufgelöset werden könne, stattfindet; denn der reine Begriff dessen, was sie sein sollten, ist in ihnen auf die leichteste, reichste, schönste Art erschöpfet. Jede Verirrung von ihnen wäre Fehler, und wenn dieser auf tausendfache Art wiederholt und vervielfältigt würde, so müßte man immer doch zu jenem Ziel zurückkehren, das ein Höchstes seiner Art und nur ein Punkt ist.

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