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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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2. Der Verfolg der Geschichte zeigt, daß mit dem Wachstum wahrer Humanität auch der zerstörenden Dämonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei; und zwar nach innern Naturgesetzen einer sich aufklärenden Vernunft und Staatskunst.

Je mehr die Vernunft unter den Menschen zunimmt, desto mehr muß mans von Jugend auf einsehen lernen, daß es eine schönere Größe gibt als die menschenfeindliche Tyrannengröße, daß es besser und selbst schwerer sei, ein Land zu bauen, als es zu verwüsten, Städte einzurichten, als solche zu zerstören. Die fleißigen Ägypter, die sinnreichen Griechen, die handelnden Phönizier haben in der Geschichte nicht nur eine schönere Gestalt, sondern sie genossen auch während ihres Daseins ein viel angenehmeres und nützlicheres Leben als die zerstörenden Perser, die erobernden Römer, die geizigen Karthaginenser. Das Andenken jener blühet noch in Ruhm, und ihre Wirkung auf Erden ist mit wachsender Kraft unsterblich; dagegen die Verwüster mit ihrer dämonischen Übermacht nichts anders erreichten, als daß sie auf dem Schutthaufen ihrer Beute ein üppiges, elendes Volk wurden und zuletzt selbst den Giftbecher einer ärgern Vergeltung tranken. Dies war der Fall der Assyrer, Babylonier, Perser, Römer; selbst den Griechen hat ihre innere Uneinigkeit, sowie in manchen Provinzen und Städten ihre Üppigkeit mehr als das Schwert der Feinde geschadet. Da nun diese Grundsätze eine Naturordnung sind, die sich nicht etwa nur durch einige Fälle der Geschichte als durch zufällige Exempel beweiset, sondern die auf sich selbst, d. i. auf der Natur der Unterdrückung und einer überstrengten Macht oder auf den Folgen des Sieges, der Üppigkeit und dem Hochmut wie auf Gesetzen eines gestörten Gleichgewichts ruhet und mit dem Lauf der Dinge ihren gleich ewigen Gang hält: warum sollte man zweifeln müssen, daß diese Naturgesetze nicht auch, wie jede andre, erkannt und, je kräftiger sie eingesehen werden, mit der unfehlbaren Gewalt einer Naturwahrheit wirken sollten? Was sich zur mathematischen Gewißheit und auf einen politischen Kalkül bringen läßt, muß später oder früher als Wahrheit erkannt werden; denn an Euklides Sätzen oder am Einmaleins hat noch niemand gezweifelt.

Selbst unsre kurze Geschichte beweist es daher schon klar, daß mit der wachsenden wahren Aufklärung der Völker die menschenfeindlichen, sinnlosen Zerstörungen derselben sich glücklich vermindert haben. Seit Roms Untergang ist in Europa kein kultiviertes Reich mehr entstanden, das seine ganze Einrichtung auf Kriege und Eroberungen gebauet hätte; denn die verheerenden Nationen der mittlern Zeiten waren rohe, wilde Völker. Je mehr aber auch sie Kultur empfingen und ihr Eigentum liebgewinnen lernten, desto mehr drang sich ihnen unvermerkt, ja oft wider ihren Willen, der schönere, ruhige Geist des Kunstfleißes, des Ackerbaues, des Handels und der Wissenschaft auf. Man lernte nutzen, ohne zu vernichten, weil das Vernichtete sich nicht mehr nutzen läßt, und so ward mit der Zeit, gleichsam durch die Natur der Sache selbst ein friedliches Gleichgewicht zwischen den Völkern, weil nach Jahrhunderten wilder Befehdung es endlich alle einsehen lernten, daß der Zweck, den jeder wünschte, sich nicht anders erreichen ließe, als daß sie gemeinschaftlich dazu beitrügen. Selbst der Gegenstand des scheinbar größesten Eigennutzes, der Handel, hat keinen andern als diesen Weg nehmen mögen, weil er Ordnung der Natur ist, gegen welche alle Leidenschaften und Vorurteile am Ende nichts vermögen. Jede handelnde Nation Europas beklaget es jetzt, und wird es künftig noch mehr beklagen, was sie einst des Aberglaubens oder des Neides wegen sinnlos zerstörte. Je mehr die Vernunft zunimmt, desto mehr muß die erobernde eine handelnde Schifffahrt werden, die auf gegenseitiger Gerechtigkeit und Schonung, auf einem fortgehenden Wetteifer in übertreffendem Kunstfleiße, kurz auf Humanität und ihren ewigen Gesetzen ruhet.

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