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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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II.

Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen

Erstes Beispiel. Als einst im Unermeßlichen der Werkstoff künftiger Welten ausgebreitet schwamm, gefiel es dem Schöpfer dieser Welten, die Materie sich bilden zu lassen nach den ihnen anerschaffenen inneren Kräften. Zum Mittelpunkt des Ganzen, der Sonne, floß nieder, was nirgend eigne Bahn finden konnte, oder was sie auf ihrem mächtigen Thron mit überwiegenden Kräften an sich zog. Was einen andern Mittelpunkt der Anziehung fand, ballte sich gleichartig zu ihm und ging entweder in Ellipsen um seinen großen Brennpunkt, oder flog in Parabeln und Hyperbeln hinweg und kam nie wieder. So reinigte sich der Äther, so ward aus einem schwimmenden, zusammenfließenden Chaos ein harmonisches Weltsystem, nach welchem Erden und Kometen in regelmäßigen Bahnen Äonen durch um ihre Sonne umhergehn: ewige Beweise des Naturgesetzes, daß vermittelst eingepflanzter göttlicher Kräfte aus dem Zustande der Verwirrung Ordnung werde. Solange dies einfache große Gesetz aller gegeneinander gewogenen und abgezählten Kräfte dauret, stehet der Weltbau fest; denn er ist auf eine Eigenschaft und Regel der Gottheit gegründet.

Zweites Beispiel. Gleichergestalt als unsre Erde aus einer unförmlichen Masse sich zum Planeten formte, stritten und kämpften auf ihr ihre Elemente, bis jedes seine Stelle fand, so daß nach mancher wilden Verwirrung der harmonisch geordneten Kugel jetzt alles dienet. Land und Wasser, Feuer und Luft, Jahreszeiten und Klimate, Winde und Ströme, die Witterung und was zu ihr gehöret: Alles ist einem großen Gesetz ihrer Gestalt und Masse, ihres Schwunges und ihrer Sonnenentfernung unterworfen und wird nach solchem harmonisch geregelt. Jene unzähligen Vulkane auf der Oberfläche unsrer Erde flammen nicht mehr, die einst flammten; der Ozean siedet nicht mehr von jenen Vitriolgüssen und andern Materien, die einst den Boden unsres festen Landes bedeckten. Millionen Geschöpfe gingen unter, die untergehen mußten; was sich erhalten konnte, blieb und steht jetzt Jahrtausende her in großer harmonischer Ordnung. Wilde und zahme, fleisch- und grasfressende Tiere, Insekten, Vögel, Fische, Menschen und gegeneinander geordnet und unter diesen allen Mann und Weib, Geburt und Tod, Dauer und Lebensalter, Not und Freude, Bedürfnisse und Vergnügen. Und alle dies nicht etwa nach der Willkür einer täglich geänderten, unerklärlichen Fügung, sondern nach offenbaren Naturgesetzen, die im Bau der Geschöpfe, d. i. im Verhältnis aller organischen Kräfte lagen, die sich auf unserm Planeten beseelten und erhielten. Solange das Naturgesetz dieses Baues und Verhältnisses dauert, wird auch seine Folge dauern; harmonische Ordnung nämlich zwischen dem belebten und unbelebten Teil unsrer Schöpfung, die, wie das Innere der Erde zeigt, nur durch den Untergang von Millionen bewirkt werden konnte.

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