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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Und wenn bei diesem allen nur noch einiger Fortgang merklich wäre, wo zeigt dieser sich aber in der Geschichte? Allenthalben siehet man in ihr Zerstörung, ohne wahrzunehmen, daß das Erneuete besser als das Zerstörte werde. Die Nationen blühen auf und ab; in eine abgeblühete Nation kommt keine junge, geschweige eine schönere Blüte wieder. Die Kultur rückt fort, sie wird aber damit nicht vollkommener; am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter. Waren die Römer weiser und glücklicher, als es die Griechen waren? Und sind wirs mehr als beide?

Die Natur des Menschen bleibt immer dieselbe; im zehntausendsten Jahr der Welt wird er mit Leidenschaften geboren, wie er im zweiten derselben mit Leidenschaften geboren ward, und durchläuft den Gang seiner Torheit zu einer späten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit. Wir gehen in einem Labyrinth umher, in welchem unser Leben nur eine Spanne abschneidet, daher es uns fast gleichgültig sein kann, ob der Irrweg Entwurf und Ausgang habe.

Trauriges Schicksal des Menschengeschlechts, das mit allen seinen Bemühungen an Ixions Rad, an Sisyphus Stein gefesselt und zu einem tantalischen Sehnen verdammt ist. Wir müssen wollen, wir müssen streben, ohne daß wir je die Frucht unsrer Mühe vollendet sähen oder aus der ganzen Geschichte ein Resultat menschlicher Bestrebungen lernten. Stehet ein Volk allein da, so nutzt sich sein Gepräge unter der Hand der Zeit ab; kommt es mit andern ins Gedränge, so wird es in den schmelzenden Tiegel geworfen, in welchem sich die Gestalt desselben gleichfalls verlieret. So bauen wir aufs Eis, so schreiben wir in die Welle des Meers; die Welle verrauscht, das Eis zerschmilzt, und hin ist unser Palast wie unsre Gedanken.

Wozu also die unselige Mühe, die Gott dem Menschengeschlecht in seinem kurzen Leben zum Tagwerk gab? Wozu die Last, unter der sich jeder zum Grabe hinabarbeitet? Und niemand wurde gefragt, ob er sie über sich nehme, ob er auf dieser Stelle, zu dieser Zeit, in diesem Kreise geboren sein wollte! Ja, da das meiste Übel der Menschen von ihnen selbst, von ihrer schlechten Verfassung und Regierung, vom Trotz der Unterdrücker und von einer beinah unvermeidlichen Schwachheit der Beherrscher und der Beherrschten herrühret, welch ein Schicksal wars, das den Menschen unter das Joch seines eignen Geschlechts, unter die schwache oder tolle Willkür seiner Brüder verkaufte? Man rechne die Zeitalter des Glückes und Unglücks der Völker, ihrer guten und bösen Regenten, ja auch bei den besten derselben die Summe ihrer Weisheit und Torheit, ihrer Vernunft und Leidenschaft zusammen: welche ungeheure Negative wird man zusammenzählen! Betrachte die Despoten Asiens, Afrikas, ja beinahe der ganzen Erdrunde; siehe jene Ungeheuer auf dem römischen Thron, unter denen Jahrhunderte hin eine Welt litt; zähle die Verwirrungen und Kriege, die Unterdrückungen und leidenschaftlichen Tumulte zusammen und bemerke überall den Ausgang. Ein Brutus sinkt und Antonius triumphieret; Germanicus geht unter, und Tiberius, Caligula, Nero herrschen; Aristides wird verbannt; Konfuzius fliehet umher; Sokrates, Phocion, Seneca sterben. Freilich ist hier allenthalben der Satz kenntlich: Was ist, das ist; was werden kann, wird; was untergehen kann, geht unter; aber ein trauriges Anerkenntnis, das uns allenthalben nichts als den zweiten Satz predigt, daß auf unsrer Erde wilde Macht und ihre Schwester, die boshafte List siege.«

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