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Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777)

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§ 65: Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur durch das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.

§ 66: Unmöglich hätte irgendein ander Buch unter so verschiednen Völkern so allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nämlichen Buche beschäftigten, den menschlichen Verstand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte.

§ 67: Auch war es höchst nötig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeitlang für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten mußte. Denn dafür muß auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; damit die Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen er noch keinen Grund gelegt hat.

§ 68: Und was noch itzt höchst wichtig: – Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest.

§ 69: Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler; – kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück, und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist.

§ 70: Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Vernunftswahrheiten unmittelbar offenbaret; oder verstattet und einleitet, daß bloße Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeitlang gelehret werden: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen.

§ 71: Du erfährst in dem Knabenalter des Menschengeschlechts an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele das nämliche. Sie wird in dem zweiten bessern Elementarbuche als Offenbarung geprediget, nicht als Resultat menschlicher Schlüsse gelehret.

§ 72: So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten Testaments entbehren können; so wie wir allmählich zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch des Neuen Testaments entbehren zu können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen?

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