GHDI logo

Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777)

Seite 7 von 14    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


§ 40: So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze, kamen sie zurück, und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Abfall und Abgötterei unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann einem Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, sobald man ihn einmal erkannt hat.

§ 41: Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung des jüdischen Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und einer, der die Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Erklärungen sehr wohl gezeigt hat, wollte endlich „die augenscheinliche Erfüllung der über die Babylonische Gefangenschaft und die Wiederherstellung aus derselben ausgesprochnen und aufgeschriebnen Weissagungen“ für die wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur insofern die wahre sein, als sie die nun erst veredelten Begriffe von Gott voraussetzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß Wundertun und das Künftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches beides sie sonst auch den falschen Götzen beigeleget hatten, wodurch eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, vergänglichen Eindruck auf sie gemacht hatten.

§ 42: Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der griechischen Philosophen in Ägypten.

§ 43: Doch da es mit dieser Lehre in Ansehung ihrer heiligen Schriften die Bewandtnis nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke darin war gröblich übersehen worden, diese aber gesucht sein wollte; da auf diese noch Vorübungen nötig gewesen waren, und also nur Anspielungen und Fingerzeige stattgehabt hatten: so konnte der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele natürlicherweise nie der Glaube des gesamten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen Sekte desselben.

§ 44: Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nenne ich z. E. die göttliche Androhung, die Missetat des Vaters an seinen Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Dies gewöhnte die Väter, in Gedanken mit ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das Unglück, welches sie über diese Unschuldige gebracht hatten, vorauszufühlen.

§ 45: Eine Anspielung nenne ich, was bloß die Neugierde reizen und eine Frage veranlassen sollte; als die oft vorkommende Redensart, zu seinen Vätern versammlet werden, für sterben.

§ 46: Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgendeinen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt. Dergleichen war Christi Schluß aus der Benennung Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Beweis ausgebildet werden zu können.

§ 47: In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so die oben erwähnte Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten nicht erschwere oder versperre, die negative Vollkommenheit desselben war.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite