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6. Militär und internationale Beziehungen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Österreich-Ungarn; er schürte auch die rastlose Aggression unter einer jungen Generation, die sich zum Pangermanismus hingezogen fühlte. Bismarcks eigene Politik trug zur begeisterten Aufnahme des mitreißendsten Satzes seiner letzten großen Reichstagsrede im Februar 1888 – „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!“ (B9) – durch die deutsche Öffentlichkeit ebenso bei wie zu deren völliger Missachtung seiner friedlichen Intentionen (D16, D17, B9, B10, B11). Spätestens 1889 war Bismarck bereit, an der innenpolitischen ebenso wie an der diplomatischen Front zuvor inakzeptable Sprünge ins Ungewisse zu wagen, um seine eigene Autorität im Amt zu wahren. Daher sollten die Leser die Vorzüge und Defizite von Bismarcks Außenpolitik aus zweierlei Perspektive betrachten: über die „longue durée“ und unter sorgfältiger Beachtung der weit auseinandergehenden Einschätzungen seitens der Zeitgenossen, die sich im Glanz seiner Staatskunst sonnten oder ihren Stachel fühlten.

Das preußische Offizierskorps und der Militarismus. Im Prozess der Reichsgründung wurde das Schwert vom preußischen Heer geführt. Doch unter zeitgenössischen Historikern ist die Rolle des Militarismus im Deutschen Kaiserreich zu einem äußerst umstrittenen Thema geworden. Welche Verbindung beispielsweise soll man eigentlich herstellen zwischen dem preußischen Sieg über Österreich im Juli 1866 und Bismarcks erfolgreichem Durchpeitschen einer Vorlage (D9) im Abgeordnetenhaus lediglich zwei Monate später, die ihm „Indemnität“ für die Missachtung der liberalen Opposition gewährte? Wie die Dokumente und Bilder in diesem Abschnitt nahe legen, war die tiefe Symbolik, von der die Proklamation des Kaiserreichs im Schloss Ludwigs XIV. im Januar 1871 begleitet wurde, keineswegs zufällig. Bei jenem Ereignis stellten die Insignien der militärischen Macht alles andere so sehr in den Schatten, dass ein preußischer Offizier, als der mit dem offiziellen Gemälde der Szene beauftragte Anton von Werner den Spiegelsaal von Versailles betrat, ausrief, „Was macht denn dieser Zivilist hier?“ Doch spiegelten die jährlichen Sedanfeiern (D10) zum Gedenken an die Niederlage Frankreichs einen neuen Chauvinismus unter der deutschen Bevölkerung wider? Oder waren sie bedeutsamer als Anlässe für die örtlichen Gemeinschaften, die sozialen und kulturellen Bande zu feiern, die sie miteinander verbanden? War es dieselbe Gemeinschaftserfahrung, die zu erkennen war, wenn Veteranen der Einigungskriege und andere, die nach 1871 eingezogen worden waren, sich zum Stammtisch in der Dorfgaststätte zusammenfanden und über ihre wahren und ausgedachten Erinnerungen an den Kriegsdienst sprachen? (D11)

Noch strittiger ist die Frage, inwiefern das soziale Ethos des preußischen Offizierskorps die deutsche Gesellschaft durchzog. Diese Debatte dreht sich um die Bedeutung des Begriffs „sozialer Militarismus“, der sich einer klaren Definition entzieht. Man konstatiert die Bedeutung, die sowohl Kaiser Wilhelm I. als auch sein Enkel dem sozialen Ethos der preußischen Offiziere beimaßen (D12, D14). Als dann Wilhelm II. 1888 den Thron bestieg, war es bereits offenkundig, dass der alte preußische Adel die Kontingente gesellschaftlich privilegierter und politisch „zuverlässiger“ Rekruten, die ein modernes Heer benötigte, nicht mehr bereitstellen konnte. Der Kaiser machte aus der Not eine Tugend. Er verfügte, dass ein neuer „Adel der Gesinnung“ den fortwährenden Respekt der deutschen Gesellschaft für das Offizierskorps sicherstellen würde (D13, D15, B7, B8). Obwohl Historiker inzwischen nicht mehr der Auffassung sind, dass die breite Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber der gehobenen Stellung des Militärs eine „Feudalisierung“ des Bürgertums bedeutete, ist diese Frage weiterhin für Diskussionen geeignet.


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