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9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Es lohnt ein Blick zurück auf die Denkarten und Lebensweisen, die auf der deutschen Bühne des späten 18. Jahrhunderts miteinander konkurrierten, zumindest unter den gebildeten, besitzenden und Macht ausübenden Klassen. Vier unterscheidbare Weltanschauungen mit entsprechenden „Lebenswelten“ sind auszumachen, teils nebeneinander existierend und teils miteinander rivalisierend (sowie eine vierte, die gegen Ende des Zeitalters Gestalt annahm). Die zeitlich älteste unter ihnen war der gesellschaftliche und religiöse Traditionalismus, den man als die „christliche Vision einer ständisch verfassten Welt“ bezeichnen kann. Deutlich erkennbar nach dem Dreißigjährigen Krieg, klammerten sich seine Anhänger an die religiöse Orthodoxie, wie sie sich in den Konflikten im Vorfeld des „großen deutschen Krieges“, als der er von manchen damals bezeichnet wurde, herauskristallisierte. Allein das Vertrauen auf sein Glaubensbekenntnis und die Loyalität gegenüber dessen Geistlichen und Amtsträgern verhießen die Erlösung. Im Hinblick auf das weltliche Leben ging mit der religiösen Orthodoxie eine konservative und hierarchische Gesinnung einher. Diese Weltanschauung erblickte in den allgemein anerkannten Traditionen des Ständestaates im Spätmittelalter und der Renaissance das Versprechen eines sozialen Gleichgewichts. Jedes Kollektivinteresse in der Gesellschaft, einschließlich desjenigen der Bauern und Armen, verdiente unter der gemeinsamen Herrschaft des Fürsten und der ständisch organisierten Eliten gerechte Berücksichtigung – und würde diese auch erhalten.

Im gesamten Heiligen Römischen Reich schienen die im Westfälischen Friedensvertrag festgelegten Veränderungen der Reichsverfassung das seit langem bestehende Ideal harmonischer Machtteilung zwischen Kaiser und Reichsständen zu stärken – unter Letzteren vor allem die weltlichen und geistlichen Territorialfürsten. Eine solche Perspektive der deutschen Lebenswelt bestand bis in die napoleonische Zeit fort, als viele der von ihr geschätzten politischen Strukturen – vom Reich selbst über die grundherrlichen bis zu anderen kleinteiligeren Formen feudaler Herrschaft – zusammenbrachen oder durch Eroberung, Hilflosigkeit und ideologische Delegitimierung aufgehoben wurden. Doch diese Anschauung erlebte eine Wiedergeburt in Form des sozialen und politischen Konservatismus im 19. Jahrhundert, der sich auf die Allianz von Thron und Altar berief und die alte Münze der Herrschaft und der Freiheiten aus dem Ancien Régime mit den Insignien einer patriarchalisch aufgefassten modernen Marktwirtschaft und ebensolcher Eigentumsrechte neu prägte.

Eine zweite Weltanschauung trat zur Mitte des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Aufstieg der militärisch-bürokratischen Monarchie in Erscheinung. Diese kann man begrifflich als „staatsbildenden Realismus“ fassen. Indem er sich im zeitgenössischen Kontext als kühn und modern verstand, huldigte er – so sehr tief verwurzelte Religiosität und eigennützige Wertschätzung des Feudalismus dies erlaubten – der Staatsräson, dem Militarismus und der Diplomatie machiavellistischer Prägung, der rücksichtslosen Fiskalpolitik sowie der bürokratischen und rechtlichen Rationalisierung. Er definierte die untertänige Bevölkerung neu nicht nach ihren traditionellen Rechten und Freiheiten, sondern vielmehr nach ihren Pflichten gegenüber dem neuen und abstrakten „Staat“, der – so hofften zumindest die Anhänger dieser Anschauung – eben damals bis in die höheren menschlichen Sphären aufstieg. Vielen erschien es selbstverständlich, diese Entwicklung Gott zuzuschreiben. Religiöse Konservative, die dies lautstark ablehnten – ebenso wie Aristokraten, die beharrlich gegen die Ausdehnung des Staates kämpften – mussten den Stachel fürstlicher Ungnade und gelegentlich sogar härtere Strafmaßnahmen erdulden.

Diese Geisteshaltung dauerte ebenfalls über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg an, so wie sie in moderner Aufmachung bis heute fortbesteht. Heute wie damals wurde sie von Wirtschaftsunternehmern geteilt, besonders jenen, die gewinnbringend für den Machtstaat tätig waren. Doch Mitte des 18. Jahrhunderts stieß diese Denkart auf eine Herausforderung in Form einer dritten Weltanschauung, die man als „Aufklärungsutopismus“ bezeichnen kann. Es handelte sich dabei um den weiter gefassten Standpunkt, in dessen Rahmen das Festhalten am „aufgeklärten Absolutismus“ eine maßgebliche Ausdrucksform darstellte. Grundlegend war das angestrebte Ziel, die menschliche Welt neu zu schaffen nach dem Vorbild der Vernunftmäßigkeit der Natur, die Galileo und Newton sowie andere Größen der wissenschaftlichen Revolution entdeckt hatten.

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