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8. Religion
Druckfassung

1. Staat und Regierung   |   1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?   |   1.B. Autoritäre Herrschaft oder Verfassungsstaat?   |   1.C. Emanzipation der Juden   |   2. Parteien und Organisationen   |   3. Militär und Krieg   |   4. Wirtschaft und Arbeit   |   5. Natur und Umwelt   |   6. Geschlecht, Familie, und Generationen   |   7. Regionen, Städte, Landschaften   |   8. Religion   |   9. Literatur, Kunst, Musik   |   10. Die Kultur der Eliten und des Volkes   |   11. Wissenschaft und Bildung

Einer der führenden Theologen der Erweckungsbewegung in Deutschland war Friedrich August Tholuck (1799-1877), der von 1825 bis zu seinem Tode als Professor für Theologie an der Universität Halle wirkte. Tholuck machte sich einen Namen als produktiver Gelehrter und aktiver Prediger des Erweckungsprotestantismus, der religiöse Rationalisten von der Kanzel aus, in Fakultätssitzungen, Vorlesungen, wissenschaftlichen Studien und polemischen Aufsätzen angriff. Im folgenden werden Auszüge aus zwei Predigten wiedergegeben, die er in der Universitätskapelle in Halle vor Studenten der protestantischen Theologie hielt. Die erste – „Was ist die menschliche Vernunft wert?“ – stammt aus den frühen 1840er Jahren. In ihr bezog Tholuck Stellung gegen die Bestrebungen von Rationalisten wie David Friedrich Strauss, die biblischen Texte zu kritisieren. Er führt dagegen aus, dass menschliche Vernunft nur dann einen Wert besitze, wenn sie von Gott inspiriert sei, wie es das Evangelium offenbare. In der zweiten Predigt mit dem Titel „Wann ist größere bürgerliche Freiheit für ein Volk ein Glück?“, die Tholuck während der Revolution von 1848 hielt, äußerte er scharfe Kritik an der Revolution und ihren Forderung nach Freiheit, Demokratie und Bürgerrechten. Hier wird die deutlich konservative politische Haltung der meisten frommen deutschen Protestanten der Zeit erkennbar.

Zwischen der Zunahme eines säkularen Humanismus einerseits und einer religiösen Erweckungsbewegung andererseits wurde es in den Jahren 1815 bis 1866 immer schwieriger, einen religiösen Standpunkt zu finden, der zwischen der Offenbarungsreligion und den Entwicklungen in der Naturwissenschaft und der kritischen geisteswissenschaftlichen Forschung vermittelte. Anhänger aller Religionen in Deutschland bemühten sich darum, wenngleich derartige Anstrengungen von Katholiken weniger unternommen wurden als von Juden und Protestanten. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Versuch war die Gründung des Protestantenvereins in der thüringischen Stadt Eisenach im Jahr 1865. Einer seiner Mitbegründer war Daniel Schenkel (1813-1885), Professor für Theologie an der Universität Heidelberg, einem Zentrum des religiösen Rationalismus in Deutschland. Die folgenden Auszüge aus einer kleinen Schrift, die er zur Rechtfertigung der Vereinsgründung verfasste, umreißen einige der wesentlichen Argumente, die angeführt wurden, wenn es um die Bestimmung einer eigenständigen Position zwischen rationalistischem Humanismus und religiöser Erweckungsbewegung ging. Schenkels Unterscheidung zwischen Religion und Kirche und seine Definition von Protestantismus, die sich von Gewissensfreiheit und individueller spiritueller Selbstbefragung leiten ließ, ergab eine völlig andere Religionsvorstellung als die Tholucks, die sich auf die biblische Offenbarung gründete. Die Verbindung, die Schenkel zwischen dem Protestantismus und der deutschen Nation sowie der Forderung nach kritischem Denken der gebildeten deutschen Mittelschicht herstellte, legte ein Religionsverständnis nahe, das im Einklang mit Liberalismus und Nationalismus stand und sich darin ebenfalls deutlich von Tholucks Sicht auf Religion und Politik unterschied. Der Leitspruch des Protestantenvereins, seine Forderung nach „der Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit“ und „im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit“ schien unter Beibehaltung der Ideale der Reformation einen Weg zur Versöhnung der protestantischen Religion mit den neuen Entwicklungen von Wissenschaft und Forschung zu eröffnen.

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