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1.C. Emanzipation der Juden
Druckfassung

1. Staat und Regierung   |   1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?   |   1.B. Autoritäre Herrschaft oder Verfassungsstaat?   |   1.C. Emanzipation der Juden   |   2. Parteien und Organisationen   |   3. Militär und Krieg   |   4. Wirtschaft und Arbeit   |   5. Natur und Umwelt   |   6. Geschlecht, Familie, und Generationen   |   7. Regionen, Städte, Landschaften   |   8. Religion   |   9. Literatur, Kunst, Musik   |   10. Die Kultur der Eliten und des Volkes   |   11. Wissenschaft und Bildung

Seit der Revolution von 1830 wurde die Frage der jüdischen Emanzipation zunehmend kontrovers diskutiert. Die beiden folgenden Dokumente zeigen auf besonders deutliche Weise die unterschiedlichen und entgegengesetzten Konzepte von Staat und Staatsbürgerschaft, die in dieser Debatte zu Tage traten. Das erste Dokument enthält Auszüge aus dem Pamphlet Die jüdische nationale Eigenart, das H.E.G. Paulus (1761-1851), der von 1811 bis 1834 Professor für Theologie an der Universität Heidelberg war, 1831 publizierte. Paulus war nicht nur rationalistischer Theologe, dessen Evangelienkommentare großes Aufsehen erregt hatten, da er die Wiederauferstehung Jesu leugnete; er war auch politisch aktiv und nahm häufig zu öffentlichen Ereignissen Stellung. Da er gegen den Gesetzesvorschlag zur Emanzipation der Juden im Großherzogtum Baden war, der zu diesem Zeitpunkt dem Parlament des Großherzogtums zur Entscheidung vorlag, behauptete Paulus, dass sich die Juden in Deutschland durch die Einhaltung ihrer religiösen Gesetze selbst eine eigene, fremde Nationalität aneigneten, in der sie sich von allen anderen Deutschen unterschieden. Daher könnten sie nur vom Staat beschützte Untertanen, nicht jedoch gleichberechtigte Staatsbürger sein. Der einzige Weg für die Juden zur gleichberechtigten Staatsbürgerschaft bestand Paulus zufolge in der Veränderung ihrer Gesetze und Bräuche. Neben der Angleichung der jüdischen Religion an das Christentum müssten Juden auch ihre Berufe als Finanzmakler und Hausierer aufgeben, die Paulus als schädlich für das öffentliche Wohlergehen bezeichnete. Für Paulus waren Religion und Nationalität untrennbar verbunden. Die Juden sollten erst einmal beweisen, dass sie gewisse, von Christen festgelegte Standards – religiöser, moralischer oder beruflicher Art - erfüllten, bevor sie Bürger eines deutschen Staates werden könnten.

Das nächste Dokument fasst Auszüge aus dem auf Paulus reagierenden Pamphlet Verteidigung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden gegenüber den Vorschlägen von Herrn Dr. H.E.G. Paulus zusammen. Der Verfasser dieser Replik war Gabriel Riesser (1806-1863), der entschiedenste Vertreter der jüdischen Emanzipation unter den deutschen Juden. Dem gebürtigen Hamburger und als Jurist ausgebildeten Riesser gelang eine beeindruckende politische Karriere: Er war Vize-Präsident der Frankfurter Nationalversammlung und wurde 1859 Richter am Hamburger Berufungsgericht, der erste Jude, der in Deutschland zum Richter ernannt wurde. Riessers Entgegnung auf Paulus’ Ausführungen richtete sich weniger auf die Verteidigung der jüdischen Religionsrituale oder die Diskussion über die jüdische Berufsstruktur, sondern versuchte vielmehr zu zeigen, dass diese nicht das eigentliche Problem waren. Paulus’ Angriffen auf die jüdischen Wirtschaftsaktivitäten hielt Riesser entgegen, dass Finanzmakler ein ganz normaler Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens seien und dass die Tätigkeit von Hausierern den Konsumenten zum Vorteil diene. Angriffe auf jüdische Geschäftsleute seien vor allem ihren Konkurrenten zuzuschreiben, die wiederum durch die Begrenzung des Wettbewerbs nur den Konsumenten schadeten. Als Antwort auf Paulus’ Behauptung, die Juden schlössen sich durch die Befolgung ihrer religiösen Gesetze selbst aus dem Kreis der Staatsbürger aus, erklärte Riesser, dass die Befolgung der jüdischen Religionsvorschriften eine Sache religiöser Überzeugung und des eigenen Gewissens sei und keine Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft darstelle. Letztere bestehe vielmehr in der Verpflichtung aller Bürger, diejenigen Gesetze zu befolgen, die der Staat festgelegt habe. Die Juden, stellte Riesser fest, hätten in den Befreiungskriegen gegen Frankreich gekämpft und in den Armeen der deutschen Staaten gedient und hätten damit ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation bewiesen. Weil Riesser die Begriffe Nationalität, Staatsbürgerschaft und die Rolle des Staates ganz anders definierte als Paulus, gelangte er hinsichtlich der Emanzipation der Juden zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen.

Im Jahr 1846 wurde im Parlament des Großherzogtums Nassau ein Antrag debattiert, in dem die Regierung aufgefordert wurde, den Juden die gleichen Rechte wie den übrigen Bürgern des Großherzogtums zu gewähren. Vergleichbare Debatten wurden zur gleichen Zeit auch in den Parlamenten anderer deutscher Staaten geführt, etwa in Baden, Bayern, Preußen und auch in der Frankfurter Nationalversammlung während der Revolution von 1848. Im Zuge dieser Debatten, die hier in Auszügen wiedergegeben werden, legten Befürworter und Gegner der Emanzipation der Juden ihr Verständnis von Staatsbürgerschaft dar und äußerten sich zu der Frage, ob die Juden die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllten.

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