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V. Rassenpolitik
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Im September 1935 nutzte Hitler den 7. Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg als Gelegenheit, um der Regierungsbürokratie den Anstoß zu geben, ein Gesetz mit zwei Zielen zu verabschieden: erstens, klare Rassenkriterien für die deutsche Staatsbürgerschaft zu definieren und zweitens, die Heirat und generell sexuelle Beziehungen zwischen deutschen Juden und „Ariern“ zu verbieten. Damals hofften einige deutsche Juden, diese Herabstufung vom Bürger zum Untertan möge, wie erniedrigend sie auch sei, zumindest eine gewisse Stabilität für die Zukunft bringen. Nach der Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Gesetze gab es tatsächlich zeitweilig eine Pause in der Einführung neuer Maßnahmen gegen die Juden. Dies war jedoch wahrscheinlich eher den deutschen Bemühungen zuzuschreiben, während der Olympischen Spiele in Berlin 1936 gegenüber der Weltöffentlichkeit ein gutes Gesicht zu zeigen.

Der „Anschluss“ Österreichs am 12. März 1938 sowie die riskantere Annexion des tschechoslowakischen Sudetenlandes (ermöglicht durch das Münchener Abkommen vom 29. September 1938) ermutigten die Nazis und ließen sie weniger auf die ausländische Meinung bedacht und noch entschlossener werden, die Juden innerhalb ihres stetig wachsenden Einflussbereichs zu vernichten. Ende Oktober des Jahres schob die Gestapo etwa 17.000 Juden polnischer Abstammung in das Niemandsland zwischen der deutschen und polnischen Grenze ab. Die staatenlosen Juden, die weder nach Polen einreisen noch nach Deutschland zurückkehren konnten, wurden in diesem Niemandsland sich selbst überlassen, bis die polnische Regierung schließlich direkt hinter ihrer Grenze Flüchtlingslager für sie einrichtete. Als der siebzehnjährige Herschel Grynspan, ein in Paris lebender Pole, hörte, dass seine Eltern in dieser Situation gefangen waren, schoss er auf einen deutschen Legationssekretär in Paris, Ernst Eduard vom Rath (1909-1938). Das Attentat geschah am 7. November 1938, vom Rath erlag zwei Tage später seinen Verletzungen.

Die Schüsse gaben den Nazis einen willkommenen Vorwand, um die deutschen Juden zu bestrafen. Die von den Nazis kontrollierte Presse verkündete bald, Grynszpans Tat sei Teil einer Verschwörung des internationalen Judentums gegen Deutschland, und nachdem er von Hitler grünes Licht erhalten hatte, empfahl Goebbels „spontane“ Aktionen gegen die Juden. Am Abend des 9. November 1938 (oft als „Reichskristallnacht“ bezeichnet) zettelte die SA eine landesweite Gewaltkampagne gegen die deutschen Juden an. Die Angriffe dauerten mehrere Tage an, ungefähr 100 Juden wurden ermordet, zahlreiche weitere verletzt und mehr als 7.000 jüdische Geschäfte verwüstet und 267 Synagogen in ganz Deutschland zerstört. Ausländische Beobachter, Zeitungsreporter und Diplomaten sammelten ausführliche Informationen über die von der Regierung angestifteten Gewalttaten und verbreiteten diese in der restlichen Welt. Samuel Honaker, der amerikanische Konsul in Stuttgart, erkannte, dass die „spontanen“ Gewaltausbrüche tatsächlich sorgfältig inszeniert waren.

Am 11. November 1938 beauftragte Hitler Göring mit der Koordinierung von Maßnahmen im Gefolge der „Kristallnacht“. Am nächsten Tag berief Göring eine große interministerielle Sitzung im Reichsluftfahrtministerium ein. Joseph Goebbels, Reinhard Heydrich und Martin Bormann, damals Stabsleiter des „Stellvertreters des Führers“, waren unter den mächtigen Figuren, die an dieser mehrstündigen Sitzung teilnahmen. Göring trat für die staatliche Beschlagnahmung jüdischen Eigentums ein und war deshalb bemüht, die weitere Zerstörung oder private Aneignung wertvoller jüdischer Besitztümer zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Göring eine Bandbreite an Maßnahmen vor, um die Juden zu enteignen, einzuschränken oder auszuweisen – kurz gesagt, sie aus der deutschen Gesellschaft auszugrenzen. Heydrich wies jedoch den Gedanken, in deutschen Städten jüdische Ghettos einzurichten, mit dem Argument zurück, dass diese zu Brutstätten von Kriminalität und Krankheiten würden. Göring zeigte einiges Interesse für Heydrichs Vorschläge zur Steigerung jüdischer Auswanderung, er drohte jedoch auch an, dass im Kriegsfall strengere Maßnahmen ergriffen würden.

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