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I. Aufbau des NS-Regimes
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Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Hitler und sein engerer Kreis hoher Nazi-Funktionäre kontrollierten nun die Spitze des Staates und seiner Polizeibehörden. Ein großer Teil der Regierung wurde jedoch noch immer von denjenigen geleitet, die bereits vor 1933 im Amt waren. Das Beamtentum existierte weiter; Einrichtungen wie das Militär, das Außenministerium und die Justiz waren nur in geringem Maß von Anhängern der Nazis infiltriert. Das Verhältnis zwischen Staat und Partei mit ihrer Vielzahl an Unterorganisationen würde noch zu bestimmen sein. Würde Hitler sich dafür entscheiden, durch die Partei oder durch den Staat zu regieren?

Ernst Röhm (1887-1934), Stabschef der paramilitärischen Sturmabteilung (SA), verkörperte die potenziell destabilisierenden Kräfte innerhalb der NSDAP selbst. Als Reichswehroffizier hatte er Hitler in den frühen 1920er Jahren dabei geholfen, den kleinen Münchener Verein, der als Deutsche Arbeiterpartei bekannt war, in eine Massenorganisation zu verwandeln. Röhm, ein Schläger und als homosexuell bekannter Aktivist, verachtete bestehende Eliten und war mehr als bereit, zur Zerschlagung traditioneller Regierungs- und Privatorganisationen beizutragen. Doch Röhm und seine SA wurden bald zum Hindernis – und sogar zur Bedrohung – für die Bemühungen der Nazis, Deutschlands militärische Stärke auszubauen, da die Reichswehr sich durch die Schläger, die die Ränge von Röhms enormer paramilitärischen Organisation füllten , bedroht fühlte. Nachdem er die Veteranenorganisation „Stahlhelm“ in die SA integriert hatte, befehligte Röhm eine Truppe von mehr als vier Millionen Männern.

Rivalitäten innerhalb der Nazi-Bewegung trugen zu einem dramatischen Bruch bei. Sowohl Heinrich Himmler, Reichsführer SS, als auch Hermann Göring, Reichsminister für Luftfahrt und preußischer Ministerpräsident, betrachteten Röhm als eine Bedrohung ihres jeweiligen Machtbereichs und ihrer eigenen Ambitionen. Daher verbreiteten sie Gerüchte, die SA plane, die Reichswehr zu übernehmen oder zu ersetzen und versuchten, Hitler zu überzeugen, dass Röhm sich zum Putsch gegen ihn verschworen habe. Nach anfänglichem Zögern beschloss Hitler schließlich, Röhm, einen seiner ältesten Kameraden, zu beseitigen. Zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 1934 ermordeten ausgewählte Trupps von Himmlers SS mindestens 85 führende SA-Funktionäre und andere lästige Gegner des Regimes in einer „Säuberungsaktion“ mit dem Codenamen „Aktion Kolibri“. (Das Ereignis wird zumeist als Röhm-Putsch bezeichnet, eine von den Nazis verbreitete Bezeichnung, die impliziert, dass sie zum Handeln gezwungen gewesen seien, um einen drohenden Putsch zu verhindern.) Am Vormittag des 30. Juni 1934 wurde Röhm verhaftet und in das Gefängnis München-Stadelheim gebracht, wo er am 1. Juli von der SS erschossen wurde. Unter den von der SS während der Aktion ermordeten politischen Gegnern Hitler war auch der ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher (1882-1934); seine Frau erlag ihren Schussverletzungen im Krankenhaus.

Mit einem Schlag war die SA als nennenswerte politische Kraft ausgelöscht worden. Hitler konnte nun die militärische Stärke Deutschlands auf Grundlage der regulären Streitkräfte ausbauen. Einige Reichswehroffiziere waren sogar so töricht, den 30. Juni als einen Sieg zu feiern und dabei die Tatsache zu übersehen, dass auch zwei ehemalige Generäle (Schleicher und Ferdinand von Bredow) ermordet worden waren. Rückblickend liegt die wahre Bedeutung der „Aktion Kolibri“ jedoch darin, dass der Regierungschef, unabhängig und aus eigener Initiative handelnd, offensichtlichen Massenmord legitimiert hatte – ohne jegliches Gerichtsverfahren – und dass die Nation größtenteils der Nazi-Propaganda Glauben schenkte, die diesen Schlag als notwendig darstellte. Das Kabinett erklärte die Aktion rückwirkend für rechtmäßig. Selbst Victor Klemperer hatte sich zumindest teilweise täuschen lassen, als er in seinem Tagebuch schrieb: „Er [Hitler] fühlt sich nicht als Mörder. Tatsächlich hat er wohl auch aus Notwehr gehandelt und ein wesentlich schlimmeres Blutvergießen vermieden. Aber er hat doch diese Menschen auf ihre Posten gestellt, er ist doch der Autor dieses Systems des Absolutismus. [ . . . ] Das Gräßliche ist, daß ein europäisches Volk sich solch einer Bande von Geisteskranken und Verbrechern ausgeliefert hat und sie noch immer erträgt.“ (5)



(5) Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-1941. Berlin: Aufbau-Verlag 1999, S. 122 (Eintrag vom 14. Juli 1934).

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