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Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen (1818/19)

Die Ostseeinsel Rügen hatte von 1648 bis 1815 zu Schwedisch-Pommern gehört, bis sie anschließend ein Teil Preußens wurde. Dank ihrer beeindruckenden weißen Kalksteinklippen war und ist Rügen ein beliebtes norddeutsches Ausflugsziel. Caspar David Friedrichs Darstellung eines scheinbar idyllischen Nachmittagsausflugs an die Küste ist eines der am wenigsten melancholischen Gemälde dieses gänzlich Romantischen Künstlers. Es ist insofern nicht überraschend, dass das Bild in einer kurzen Zeit der Hoffnung – sowohl im Privatleben des Künstlers als auch im politischen Leben Deutschlands – entstand. Im Sommer 1818 befand Friedrich sich auf Hochzeitsreise: die Frau im auffälligen roten Kleid ist mit großer Wahrscheinlichkeit seine Frau Caroline. Friedrich selbst ist als Figur in der Bildmitte zu sehen. Er hat Hut und Spazierstock abgelegt und sich auf den Boden gekniet, vermutlich, um über den Rand der Klippen zu schauen. Während Caroline für Friedrichs Privatleben steht, verkörpert die Figur auf der rechten Seite den breiteren politischen Kontext. Diese Figur in der altdeutschen Uniform der Burschenschaften, die sich nach dem Wiener Kongress nach Vorbild der antinapoleonischen Freikorps gründeten, steht für die liberalen Nationalisten, die zum damaligen Zeitpunkt in Friedrich Wilhelms III. Versprechen konstitutioneller und demokratischer Reformen schwelgten. Metternichs Karlsbader Beschlüsse, die sowohl die Uniform als auch die Bruderschaften verbieten sollten und alles zensierten, wofür diese standen, waren zu diesem Zeitpunkt noch ein Jahr entfernt.

Trotz seiner hoffnungsvollen Stimmung weist dieses Gemälde viele Merkmale der frühromantischen Malerei auf: die genaue, beinahe übermäßig detailreiche Naturbeobachtung, die dramatische Einfassung, welche dem Bild den Eindruck eines verlockenden jedoch unerreichbaren Fensterausblicks verleiht sowie die Andeutung einer tieferen spirituellen Bedeutung dahinter. Trotz aller fröhlichen Spontaneität muss dieses Bild zweier Jungverheirateter, die einen Abgrund hinunter blicken, allerdings auch als Metapher verstanden werden. Das Gemälde illustriert auf fast unheimliche Weise die Worte, die ein Zeitgenosse Friedrichs, der Theologe Friedrich Schleiermacher, 1809 an seine eigene Frau schrieb: „So heiter, so leicht, wie Du mir zuerst erschienst…am Rande des Abgrunds mit mir herumhüpfend und Blumen pflückend, wirst Du auch mit mir am Rande dieser bedenklichen Zeit herumhüpfen und ihr entpflücken, was sie nur darbietet." (zit. in Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich. München: Prestel 1987, S.118.)

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Caspar David Friedrich, <I>Kreidefelsen auf Rügen</I> (1818/19)

Original: Winterthur, Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten
© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz