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Ein Augenzeuge erinnert sich an die Unruhen in Ostdeutschland 1968 (Rückblick, 2003)

Der Sohn des prominenten ostdeutschen Dissidenten Robert Havemann, Florian, erinnert sich an seine Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Sozialismus im Jahre 1968, die durch die Niederschlagung des Prager Frühlings erstickt worden seien. Für die Dissidenten sei dies Grund genug gewesen, danach die DDR von vornherein abzulehnen.

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68er Ost


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Es hat ein 1968 nicht nur im Westen gegeben. Das Jahr 68 ist auch für den Osten von größter Bedeutung, und zwar durch die Entwicklung in der ČSSR, durch das, was man den Prager Frühling genannt hat, auf den dann der schreckliche 21. August folgte, die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten. Darüber wird zu reden sein und auch darüber, daß es im Osten eine 68er Bewegung gegeben hat, deren Schicksal mit der des Prager Frühlings auf das engste verbunden ist.

Ich bin auf meine Weise selbst ein 68er, habe mich jedenfalls immer als ein solcher begriffen. Ich gehöre zu der zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe von Leuten, die man die Ost-68er nennen könnte – vielleicht waren das insgesamt 200 Menschen, mehr nicht. Man kannte sich untereinander nicht vollständig, man kannte aber die meisten, kannte sie wenigstens vom Sehen und Hören, kannte sie von ihren Spitznamen her.

Diesen maximal 200 Leuten, die sich gut und gerne in einem mittelgroßen Kulturhaus hätten versammeln können, war es auf Grund der im Vergleich mit dem Westen unfreien Bedingungen in der DDR niemals möglich, zusammenzukommen und dann ihre Sache, ihre Ziele und ihre Probleme zu diskutieren, geschweige denn, in all diesen Fragen zu einer Einigkeit und Stärke zu gelangen. Das Medium dieser Ost-68er, das Medium ihres Austausches blieb das Gespräch – das allerdings oft sehr intensive – in kleinen Grüppchen, die wohl nur informelle Gesprächskreise genannt werden können. Das Medium größerer Zusammenkünfte war die Party. Diese kleine Gruppe versuchte, alles zu sein, alles zu machen – alles das, was auch anderswo zu 68 dazu gehört: Sie versuchte eine andere Kunst und Kultur, eine andere Art des Lebens und dann auch der Kindererziehung auszuprobieren, sie versuchte sich in der sexuellen Befreiung, in anderen Geschlechterverhältnissen, sich versuchte sich in anderen Räuschen und sie versuchte auch, eine andere Art von Politik zu denken und zu praktizieren. Das war natürlich alles ein bißchen ville und zuviel für eine so kleine Gruppe, die dabei noch durch die Umstände, die politischen Verhältnisse behindert war. Zumal hier im Geiste von 68 keine Rollenaufteilung untereinander möglich war, wie sich dies sonst in Provinzen beobachten läßt, die aber doch den Ehrgeiz haben, am großen Spiel der großen Welt in ihrer kleinen Weise, mit ihren geringen Ressourcen teilzuhaben – Claude Levi-Strauss hat das in seinem Buch von den Traurigen Tropen wunderbar für das Rio de Janeiro der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts beschrieben. 68 ging es um den ganzen Menschen, und also mußte jeder einzelne von uns alles sein.

Kein Wunder, daß bei all diesen so ins Grundsätzliche gehenden Bemühungen erst einmal wenig herausgekommen ist – erst einmal, denn es ist ja dann, wie sich im Verlaufe der folgenden Jahre erwies, sehr, sehr viel herausgekommen. Diese kleine, so intensiv auf sich und ihre geistigen und moralischen Probleme bezogene Gruppe war eine Brutstätte von Begabungen, ein Talentschuppen, wie es das nur ganz selten gibt. Selbst Leute, die ich für blasse Randfiguren hielt, haben dann später Bücher geschrieben, für die sie Preise bekamen, gefeiert wurden. Zu dieser Gruppe gehörten Thomas Brasch, Katharina Thalbach, Nina Hagen, Barbara Honigmann, Toni Krahl, Reinhardt Stangl, Hans Scheib, zu ihr gehörte auch als ein sehr junger Mann Thomas Heise, zu ihr gehörten ein paar mehr, die später dann erfolgreiche Wissenschaftler, Dramaturgen, Redakteure und auch Künstler wurden, die nicht so bekannt geworden sind. Diese Gruppe besaß auch eine große Anziehungskraft auf Leute, die nicht direkt zu ihr gehörten – ich spreche dabei von Einar Schleef, Heiner Müller, B. K. Tragelehn, Thomas Langhoff und auch von Wolf Biermann. Diese Gruppe zog für eine Zeitlang alles an, was an unzufriedenen Leuten, was an künstlerischem und geistigem Potential in Ost-Berlin existierte.

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