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Herbert Marcuse prangert den Vietnam-Krieg an (22. Mai 1966)

Mit einer Mischung von unorthodoxem Marxismus, emotionalem Anti-Imperialismus und Sozialpsychologie prangert der Sozialphilosoph und deutsche Emigrant Herbert Marcuse das militärische Engagement der USA im vietnamesischen Bürgerkrieg an und ruft die Jugend dazu auf, sich der Opposition der Befreiungsbewegung in der Dritten Welt anzuschließen.

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Vietnam – Analyse eines Exempels


Alle Ökonomie ist politische Ökonomie im weitesten Sinne, und das System der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist global, auch in dem Sinne, daß es alle Dimensionen der menschlichen Existenz privat und öffentlich den herrschenden gesellschaftlichen Mächten ausliefert. Das System ist global auch in dem Sinne, daß es für dieses System überhaupt keine äußeren Faktoren mehr gibt, daß die geographisch und anders am weitesten entfernten Kräfte zu inneren Kräften des Systems werden. Die Innenpolitik, deren Fortsetzung die Außenpolitik ist, mobilisiert und kontrolliert das Innere des Menschen, die Triebstruktur, ihr Denken und Fühlen; so kontrolliert die Spontaneität selbst – und entsprechend diesem globalen und totalen Charakter das Systems ist die Opposition, von der ich jetzt sprechen werde, nicht nur und nicht primär politisch, ideologisch, sozialistisch, sondern gleichzeitig eine instinktive moralische oder wenn Sie wollen, unmoralische, zynische existentielle Opposition. Vorherrschend ist die spontane Weigerung der oppositionellen Jugend mitzumachen, mitzuspielen, ein Ekel vor dem Lebensstil der »Gesellschaft im Überfluß«, der sich hier durchsetzt. Nur diese Negation ist artikuliert, nur dieses Negative ist die Basis der Solidarität, nicht aber das Ziel: sie ist Negation der totalen Negativität, die das System der »Gesellschaft im Überfluß« durchherrscht.

Der globale Kriegszug gegen den Kommunismus muß als Teil dieser totalen Negativität verstanden werden, und die ökonomische Analyse der Gründe muß die Analyse der anderen gesellschaftlichen Dimensionen in sich aufnehmen. Die traditionelle Unterscheidung von Basis und Überbau wird fragwürdig. Wie die Ausgaben für Soziologie und Psychologie im Dienst von ‚Scientific Management’, ‚Human Relations’, Marktforschung, Reklame und Propaganda schon lange nicht mehr nur Unkosten sind, sondern zum Teil zu notwendigen Reproduktionskosten wurden, so gehören heute psychologische Faktoren zur notwendigen Reproduktion des bestehenden gesellschaftlichen Apparats. Sie reproduzieren, als Elemente der permanenten Mobilisierung der Bevölkerung, den globalen Kreuzzug gegen den Kommunismus in der psychologischen Struktur der Individuen selbst. Diese Gesellschaft benötigt einen Feind, dessen bedrohende Macht die repressive und destruktive Ausbeutung aller materiellen und intellektuellen Rohstoffe rechtfertigen muß. Der Kontrast zwischen dem gesellschaftlichen Reichtum, zwischen dem technischen Fortschritt, zwischen der Beherrschung der Natur einerseits, und der Verwendung aller dieser Kräfte zur Perpetuierung des Existenzkampfes auf nationaler und globaler Grundlage, durch Schaffung von unnötiger parasitärer Arbeit, durch methodische Verschwendung und Zerstörung im Angesicht von Armut und Elend, durch Unterwerfung des Menschen unter den Riesenapparat totaler Verwaltung. Diese ganze fatale Einheit von Produktivität und Destruktion, von Prosperität und Elend, von Normalzustand und Krieg wirkt auf die Menschen als konstante Repression, und diese verwalteten Menschen, die Objekte dieser Repression, antworten auf sie mit einer diffusen Aggressivität. Diese Aggressivität, die in der Gesellschaft im Überfluß akkumuliert wird, muß in einer für die Gesellschaft erträglichen und profitablen Weise ausgelöst und nutzbar gemacht werden, sonst könnte sie die Einheit des Systems selbst bedrohen. Ich sehe in dieser wachsenden Aggressivität, in der instinktiven Aggressivität in der überentwickelten Industriegesellschaft einen der gefährlichsten Faktoren für die kommende Entwicklung.

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