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Ein Armenarzt berichtet aus Berlin (um 1890)

Der folgende Auszug aus dem Bericht eines Arztes über ein heruntergekommenes Berliner Viertel veranschaulicht die Kehrseite der Industrialisierung und Verstädterung. Er zeigt zudem, wie dringend die Notwendigkeit einer Sozialreform gegen Ende der Bismarckzeit geworden war. Bewohnt von Kleinbürgern, ungelernten Arbeitern und Studenten, wurde der hier beschriebene Stadtteil von einer Reihe miteinander verzahnter Erscheinungen von Not und Elend heimgesucht: Prostitution (häufig in Verbindung mit schwerer Körperverletzung), Selbstmord, Geschlechtskrankheiten und verpfuschten Abtreibungen einerseits und Lungentuberkulose, Cholera und weiteren Seuchen andererseits. Als diese Unterschiede im sozialen Gefüge – in Ermangelung eines sozialen Sicherungsnetzes nach heutigem Verständnis – größer wurden, fielen oft die Älteren und die ganz Jungen als Erste durch die Lücken.

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Die Eichendorffstraße, dicht am Nordende der nordsüdlichen Hauptader Berlins, der Friedrichstraße, und am Stettiner Bahnhof gelegen, gehörte damals zum Quartier latin, das sich, wie mir scheint, seitdem mit der Verbesserung der Transporteinrichtungen immer mehr nach der Gegend des Zoologischen Gartens und dem Savigny-Platze hin verlegt hat. Das heißt, es gab dort viel Kleinbürgertum, namentlich von alten Leuten, die von der Vermietung der Zimmer an die Studenten lebten, und kolossal viel Prostitution. Es gab außerdem sehr viele Arbeiter, wenn auch nicht gerade von der alleruntersten Schicht der Lumpenproletarier; mehr Gelernte als Ungelernte.

Hier sah ich zum ersten Male mit immer wachsendem Verständnis und immer größerem Grauen in das Medusenantlitz der sozialen Frage. Es war eine Kleineleutepraxis, oft sogar eine Armeleutepraxis; es kam immer öfter vor, daß sich ganz arme Familien an mich statt an den offiziellen Armenarzt wendeten; das ganze Elend der Großstadt entblößte sich vor meinen Augen, und die soziale Bedingtheit so vieler Krankheiten drängte sich mir auf. Als Arzt der Sanitätswache hatte ich häufig die Folgen von schweren Schlägereien zu behandeln. Einmal wurde ich in das fürchterlichste Milieu berufen, das ich jemals betreten habe: eine alte Dirne war von ihrem Zuhälter, angeblich mit einem zerbrochenen Teller, wahrscheinlich aber mit einem gefährlicheren Instrument, schwer verletzt worden; der Rand des Schulterblattes lag frei in der klaffenden Rückenwunde. Alle paar Wochen wurde ich in eines der finsteren kleinen Absteigequartiere jener Gegend gerufen, um einem Selbstmörderpaare die Totenscheine auszustellen; und ich hatte eine ganz regelmäßige Einnahme aus der Bescheinigung von blauen Flecken und derartigen kleinen Schäden, Attesten, die der erfolgreichen Anstrengung eines Prozesses dienen sollten. Entsetzliche Roheit, beschämende Unbildung, gräßliche Unwissenheit!

Und die übrige Praxis? An der Spitze marschierte die tödliche Seuche, die damals noch die Säuglinge der Großstadt mehr als zehntete: die Kindercholera, die Sommerdiarrhöe, die mir selbst vor langer Zeit meinen geliebten kleinen Bruder Georg geraubt hatte. Wir kannten die Ursache: verdorbene Milch und schlechte Luft in den überhitzten Mietskasernen, in die auch die Nacht keine Kühlung bringen konnte, weil die aneinandergedrängten Mauermassen nachts die Hitze ausströmten, die sie am Tage aufgesogen hatten. Vor allem in den engen Höfen mordete die Seuche. Ein berühmter Arzt sagte damals in bitterer Empörung: „Die armen Kinder werden erst auf dem Totenbette kühl.“ Wieviel Totenscheine habe ich ausgestellt für solche Würmchen, die ich vorher nie gesehen hatte! Der Tod hatte sie fast mit der Geschwindigkeit eines Blitzes dahingerafft. An zweiter Stelle kam der Zahl nach die Tuberkulose, namentlich in ihrer Gestalt als Lungenschwindsucht. [ . . . ]

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