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Erich Mendelsohn, „Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion" (Auszüge, 1923)

Erich Mendelsohn (1887-1953) war einer der bekanntesten europäischen Architekten der 1920er Jahre. Er entwarf zahlreiche modernistische Warenhäuser in deutschen Städten, große Fabriken, sowie den berühmten Einsteinturm in Potsdam, der beispielhaft seine funktionale und gleichzeitig organische Ästhetik verkörpert. Nach 1933 arbeitete Mendelsohn in Großbritannien, den USA und Palästina. Obwohl er im Exil weiterhin Gebäude entwarf, erreichte er nie dieselbe Bekanntheit wie seine Zeitgenossen Walter Gropius und Mies van der Rohe. In diesem Auszug bespricht er den Einfluss der Entwicklungen in den Naturwissenschaften auf architekturtheoretische Vorstellungen von Form und Funktion.

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Seit der Erkenntnis, daß die von der Wissenschaft bisher getrennten Begriffe: Materie und Energie, nur verschiedene Zustände desselben Urstoffs sind, daß in der Ordnung der Welt nichts ohne Relativität zum Kosmos, ohne Beziehung zum Ganzen vor sich geht, verläßt der Ingenieur die mechanische Theorie der toten Materie und begibt sich wieder in den Pflichtdienst der Natur. Aus Urzuständen findet er gesetzesmäßige Zusammenhänge. Seine bisherige Anmaßung weicht dem beglückenden Gefühl des Schaffenden. – Aus dem intellektuell einseitigen Erfinder wird der intuitiv allseitige Erzeuger. – Die Maschine, bisher der gefügige Handlanger der toten Ausbeutung, wird zum konstruktiven Element eines neuen lebendigen Organismus. Ihre Existenz verdanken wir ebenso wenig der Geberlaune eines Unbekannten wie die Erfinderlust irgendeines Konstruktionsgenies, sondern sie entsteht als notwendige Beigabe der Entwicklung in demselben Augenblick als das Bedürfnis sie fordert. Ihre reale Aufgabe besteht darin, den vielfachen Wechselbeziehungen zwischen Menschenzahl und Produktionssteigerung, zwischen Industrialisierung und gesteigertem Menschenverbrauch zu genügen, Ordnung in sie zu bringen und ihre Auswirkungen zu meistern.

So wird sie in gleicher Weise Sinnbild des übersteigerten Verfalls wie Element eines sich neu ordnenden Lebens.

Seit der Entdeckung ihrer Kräfte bezwingen wir scheinbar die Natur. – In Wahrheit dienen wir ihr nur mit neuen Mitteln.

Wir entlasten uns scheinbar vom Schwergesetz.

In Wahrheit begreifen wir seine Logik nur mit neuen Sinnen. Uns treibt die Präzision ihrer Touren, der harte Klang ihres Ganges zu neuer Klarheit der metallene Glanz ihres Materials in ein neues Licht. – Ein neuer Rhythmus erfaßt die Welt, eine neue Bewegung. – Der mittelalterliche Mensch, aus der horizontalen Ruhe seines beschaulichen Werktags, brauchte die Domvertikale, um seinen Gott hoch oben zu finden.

Der Mensch unserer Zeit, aus der Aufgeregtheit seines schnellen Lebens, kann nur in der spannungslosen Horizontalen einen Ausgleich finden. Nur durch den Willen zur Wirklichkeit wird er Herr über seine Unruhe, nur durch die vollendetste Schnelligkeit überwindet er seine Hast. Denn die rotierende Erde steht still! – Undenkbar, daß die Beherrschung der Luft, daß die Beherrschung der Naturelemente aufgegeben werden kann. Die Aufgabe ist, aus ihr Schulweisheiten zu machen. Das Kind lernt telephonieren, die Zahl hat ihre Größenordnung verloren, Entfernungen reduzieren sich zu Spaziergängen.

Technik ist Handwerk. – Laboratorium ist Werkstatt. – Der Erfinder ist Meister.

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