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Erich Kästner, „Besuch vom Lande" (1930)

Erich Kästner (1899-1974), vor allem bekannt für sein Kinderbuch Emil und die Detektive, verfasste ebenfalls satirische Texte und Gedichtsammlungen. Seine politisch aufgeladene Gebrauchslyrik schließt auch dieses Gedicht ein, das die schockierende erste Begegnung von Landbewohnern mit den Szenen, Geräuschen, und Charakteren der Großstadt Berlin beschreibt. Kästner verließ Deutschland auch nach 1933 nicht, trotz starker Einschränkungen und absolutem Schreibverbot ab 1943. Nach dem Krieg war er wegweisend für die Wiederentstehung von Satire und Kabarett in Westdeutschland und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt.

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Sie stehen verstört am Potsdamer Platz und finden Berlin zu laut. Die Nacht glüht auf in Kilowatts, Ein Fräulein sagt heiser: „Komm mit, mein Schatz!“ Und zeigt entsetzlich viel Haut.

Sie wissen vor Staunen nicht aus nicht ein. Sie stehen und wundern sich bloß. Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein. Sie möchten am liebsten zu Hause sein. Und finden Berlin zu groß.

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt, weil irgendwer sie schilt. Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt. Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt. Und finden Berlin zu wild.

Sie machen vor Angst die Beine krumm und machen alles verkehrt. Sie lächeln bestürzt. Und sie warten summ. Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum, bis man sie überfährt.





Quelle: Erich Kästner, „Besuch vom Lande“ (1930), in Potsdamer Platz, Drehscheibe der Welt, hrsg. von Günther Bellman. Berlin: Ullstein Buchverlag, 1997, S. 119-20. Zuerst in: Erich Kästner, Ein Mann gibt Auskunft. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1930.

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