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Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken’ – Legende oder Wirklichkeit?” (1956)

In den fünfziger Jahren treffen in der Bundesrepublik traditionelle Wertvorstellungen der älteren Generationen auf gewandelte Rollenbilder der Jugend, die ihren Ausdruck in neuen Formen der Kleidung, der Musik und des Freizeitverhaltens finden. Die Skepsis der Älteren gegenüber den Jüngeren kommt in dem zeitgenössischen Schlagwort von den „Halbstarken“ zum Ausdruck. Der Soziologe Heinz Kluth schließt sich in seiner Analyse des Halbstarken-Problems den undifferenzierten Urteilen eines großen Teils der Medien und der westdeutschen Öffentlichkeit nicht an. Er betont, daß das Phänomen der Halbstarken auf einen kleinen Kreis großstädtischer Jugendlicher beschränkt ist und eng mit dem Wandel der sozialen Umwelt in der modernen Gesellschaft verbunden ist. Sie versagt den Jugendlichen Anerkennung, bietet dem natürlichen Drang zur Aktion keine geeigneten Ventile mehr und zwingt sie in eine problematische Zwitterstellung zwischen der Welt der Kinder und der Erwachsenen.

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Die Diskussionen um Wege und Irrwege der Jugend kommen zwar nie ganz zur Ruhe, aber von Zeit zu Zeit erreichen sie doch einen gewissen Höhepunkt. Diese Höhepunkte sind deutlich daran zu erkennen, daß sich alle Befürchtungen, Verwirrungen, Urteile und Vorurteile gleichsam in einem Schlagwort verdichten, das die Öffentlichkeit gegenüber allen Regungen dieser Jugend sensibilisiert. Das hektische Fragen nach den „Halbstarken“ dürfte hinreichend beweisen, daß wir uns gegenwärtig wiederum in einer derartigen Situation befinden. Dabei ist es sicher mehr als ein Zufall, daß diese Höhepunkte immer dann einzutreten scheinen, wenn sich die Gesellschaft auf einem vermeintlich gesicherten Felde des „Erreichten“ einzurichten versucht. Man reagiert in einer derartigen Phase der Entwicklung mit besonderer Empfindlichkeit auf alle Zeichen, in denen sich eine Gefährdung der eigenen Situation ankündigen könnte; es ist die Zeit, in der aus Mücken nur allzu leicht Elefanten gemacht werden. Zur Gefährdung wird dann bereits jedes Verhalten, das vermeintlich oder tatsächlich anders ist als das eigene. Nun wird aber jede jüngere Generation in mehr oder minder großem Ausmaße neue Verhaltensformen entwickeln, die den strukturellen Bedingungen, unter denen sie aufwächst, angemessener sind als die entsprechenden Verhaltensmodelle der Erwachsenen. So ist denn auch keineswegs alles, was von dem in einer Zeit als „normal“ empfundenen Verhalten abweicht, krankhaft; es wird aber als krankhaft denunziert, sobald es den überkommenen Grundlagen zuwiderläuft, auf denen die Verhaltenssicherheit der Erwachsenen aufruht.

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Ein spektakuläres Schlagwort

Wenn die Vokabel „Halbstarke“ nämlich überhaupt einen eigenständigen Sinn hat, so muß das, worauf sie abzielt, in jenem ungesicherten Feld angesiedelt sein, das jenseits der Jugendkriminalität liegt. Mit groben Zurechnungen schießt man über den vergleichsweise winzigen Ausschnitt dieses Feldes hinaus, den man als Sphäre des „Halbstarken-Verhaltens“ ansprechen könnte. Dieses Verhalten ist in seinem Kern weder kriminell, noch asozial; es ist allerdings auch nicht in irgendeinem relevanten Sinne sozial. Um das eine oder andere sein zu können, fehlt es ihm schon an Dauer und Zielgerichtetheit. Was den „Halbstarken“ auszeichnet, ist die gleichsam eruptive Aktion um der Aktion willen. Daß aber der Begriff „Halbstarke“ heute gar nicht eine spezifische Problematik meint, sondern zu einem spektakulären Schlagwort in dem eingangs erwähnten Sinn geworden ist, beweist die Tatsache, daß man in der öffentlichen Diskussion mit den „Halbstarken“ nicht nur so heterogene Erscheinungen wie Kriminalität, Jazzfans und Cliquen-Krawalle verbindet, sondern ihnen auch gleicherweise Vierzehn- und Dreißigjährige zurechnet.

Die „Halbstarken“ sind weder dem Begriffe, noch der Sache nach neu; neu ist allein, daß die großstädtische Umwelt mit der Sache nicht mehr fertig zu werden scheint. Der Begriff „Halbstarke“ ist bereits etwa sechs Jahrzehnte alt. Um die Jahrhundertwende diente er dem Hamburger Bürgertum zur Bezeichnung der proletarischen Jugend. Er war also von Anfang an das Signum für einen Lebensbereich, der dem eigenen fremd, möglicherweise sogar feindlich war. Die Problematik der „Halbstarken“ aber gibt es wahrscheinlich schon solange, wie junge Menschen vor der Aufgabe stehen, in die vorgegebenen Normen einer Gesellschaft hineinzuwachsen. Die Formen jedoch, in denen sich die Jugend einer Zeit mit dieser Problematik auseinandersetzt bzw. auseinandersetzen kann, variieren außerordentlich stark. In den „Halbstarken“ verkörpert sich daher heute ebensowenig die Jugend schlechthin wie einst etwa im „Tangojüngling“ oder im „Swing-Boy“. Die „Halbstarken“ sind bisher so gut wie ausschließlich auf die Großstädte beschränkt geblieben; und in den betroffenen Städten ist selbst nach den pessimistischsten Schätzungen mit einem Prozent der Jugend das höchste Ausmaß der Beteiligung erreicht.

Rechnet man allerdings jeden kriminellen Jugendlichen zu den „Halbstarken“ und erblickt man in jedem, der eine Jazzveranstaltung oder einen Wildwestfilm besucht oder auch nur gelangweilt auf der Straße herumsteht, zumindest einen potentiellen „Halbstarken“, und das unter Umständen noch unabhängig von seinem Alter, dann wächst das Phänomen in der Tat zu bedrohlicher Größe an; dann hört jedoch auch die Möglichkeit einer vernünftigen Diskussion auf. Der Versuch, die Frage der „Halbstarken“ wenigstens an einigen Stellen auf das ihr gemäße Maß zurückzuführen, bedeutet nämlich nicht, daß eine derartige Diskussion nicht möglich oder gar nicht notwendig sei. Wenn auch die kleine Gruppe der „Halbstarken“ nicht die heutige Jugend schlechthin verkörpert, so werden doch in ihren extremen Reaktionsformen Probleme sichtbar, mit denen sich wahrscheinlich der größte Teil der großstädtischen Jugend in der einen oder anderen Weise auseinandersetzen muß.

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