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„Die letzten Soldaten des Großen Krieges”: Artikel aus der Zeit (13. Oktober 1955)

Ein Ergebnis der Moskau-Reise Bundeskanzler Adenauers ist im Herbst 1955 die Freilassung der letzten rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischen Arbeitslagern. Ihre Ankunft im niedersächsischen Aufnahmelager Friedland über zehn Jahre nach Kriegsende ist nicht nur für ihre Angehörigen, sondern für viele Menschen in der Bundesrepublik ein sehr emotionales Ereignis. Der Bericht der Wochenzeitung Die Zeit deutet aber auch an, daß die Eingliederung der ehemaligen Soldaten unter den stark gewandelten Bedingungen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft eine Herausforderung darstellt.

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Im Herbst 1955 kamen die letzten Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Deutschland

Eine Reportage von Jan Molitor


Hatten wir geglaubt, es sei Frieden? Schon seit zehn Jahren Frieden? Jetzt erst kehren die letzten Soldaten des Großen Krieges heim.

Als am Sonntagmittag im Lager Friedland plötzlich Tausende von wartenden Menschen die Blicke auf die ferne Landstraße am Hang richteten, sah man dort siebzehn schwere Omnibusse langsam näherfahren, gefolgt von einer langen Kette Privatautos. Im Lager begann die Glocke zu läuten. Die Wartenden rührten sich nicht. Über manches Gesicht rollten Tränen. Schließlich näherten sich die Omnibusse, einer nach dem anderen, dem »Begrüßungsplatz«, kurvten dort, und jetzt konnte man die Insassen deutlich sehen. Sie blickten durch die Wagenfenster mit ernsten Mienen zu uns hinunter, junge und alte Männer, einige hatten Blumen in der Hand; alle winkten mit kleinen, engen, hilflosen Bewegungen, hielten den Unterarm steif und drehten die Hand im Gelenk. Man hörte den Schrei einer alten Frau, die ihren Sohn wiedererkannte ...

War es dies, was einem die Kehle zuschnürte? Plötzlich stand da ein Mann in abgetragenem Fliegerblau und wandte einem den Blick zu, sagte auch ein Wort, irgendein nichtssagendes Soldatenwort. Man hätte ihm antworten müssen! Aber die Kehle war zugeschnürt. Er wandte sich ab. Ich sah an meinem Anzug hinunter ... nein, nicht, daß ich mich der Bügelfalten schämte, aber ...

Als ich den Mann im Fliegerblau eingeholt hatte, traten inmitten des Gedränges andere Heimkehrer hinzu, und wir schoben uns durch die Menge nach vorn; irgendeiner würde jetzt eine Begrüßungsrede halten. Schließlich standen die Männer ziemlich geschlossen. Auf einmal löste sich auch der Krampf in der Kehle, weil man endlich begriff, was so unfaßbar schien, daß man beim Anblick dieser Männer stumm blieb: Sie alle standen noch unterm Gesetz ihrer Soldatengewohnheit: zehn Jahre nach dem Kriege. »In dieser Kluft«, sagte ich höchst überflüssigerweise zum Fliegerblauen, »bin ich auch jahrelang herumgelaufen und herumgeflogen. Komisch, daß das Zeug so lange hält!« – »Hat irgendwo in ’ner Kiste gelegen; bin kein Flieger, bin Panzermann ...«

Er horte aufmerksam die Grußworte des niedersächsischen Ministerpräsidenten Hellwege, faltete die Hände, als Bischof Lilje das »Vaterunser« beten ließ, nickte zu den Worten der Bundestags-Alterspräsidentin Frau Lüders, als sie sagte: »Seid nicht ungeduldig gegenüber euren Angehörigen« und klatschte aufgeregt in die Hände und rief »Bravo« und »Jawohl«, als Vizekanzler Blücher von ihrer Pflicht sprach, dem Kanzler zu danken.

»Wir sind die letzten Soldaten des Großen Krieges«, sagte der Sprecher der Heimkehrer. »Wir weinen und schämen uns der Tränen nicht ...« und sprach von den vielen, vielen Gräbern, in die sie ihre Toten gelegt, und sagte, daß sie selbst, die wenigen Überlebenden, von der Liebe der Deutschen daheim seien aufrechtgehalten worden. Als die Nationalhymne gesungen wurde, hub mein Nebenmann mit kräftiger Stimme an: »Deutschland, Deutschland über alles«, schwieg dann jäh, als ein junges Mädchen mit kräftigem Sopran sang: »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Er sah sich um und drehte seine alte Soldatenmütze in der Hand. Ihm fehlten zehn Jahre ...

Der fliegerblaue Panzermann, aber auch alle anderen bemühten sich, mit jedem, der in der Nähe stand, ins Gespräch zu kommen. Es waren nichtssagende Gespräche. »Schön, daß die Sonne scheint. Fein warm habt ihr’s hier ... Als wir vor zehn Tagen in Swerdlowsk abfuhren, hatte es da 20 Grad Kälte ...« Dergleichen waren die Gespräche. Man sprach vom Wetter. Landser unterhielten sich über den Kasernenzaun mit den Zivilisten draußen: So war es. Es gingen Frauen und Kinder, aber auch Männer mit selbstgemalten Schildern, die sie an Stangen trugen, durch das Gedränge: »Wer weiß etwas über ...«; dann folgte Name, Dienstgrad, Feldpostnummer. Manchmal traten Frauen an die letzten Soldaten heran: »Bitte, bitte, ist Karl Müller dabei?« – »Kann nicht dabei sein, liebe Frau. Wir sind die Buchstaben A und B und W und H-G.« Man hat die letzten Soldaten nach dem Alphabet, dem russischen, entlassen; und da die Russen kein H haben, statt dessen stets ein G nehmen, kam die Kombination H-G zustande. Der allerletzte Kern der deutschen Osttruppen, zehn Jahre zurückgehalten, meist wider jedes menschliche Recht, oft zusammengewürfelt in den Straflagern mit Menschen aller Völker der russischen Erde, in einem Durcheinander, das niemand, nicht einmal die sowjetischen Kerkermeister, durchschauen konnte, und dann nach dem Alphabet entlassen: So vermählte sich Barbarei mit Bürokratie.

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