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Aus einem Vortrag von Oberstudiendirektor Kurt Hahn anläßlich des Lehrgangs für Sexualerziehung der Jugend auf der Jugendburg Bilstein/Sauerland (14. September 1950)

Der Verfall familiärer und gesellschaftlicher Strukturen durch Krieg und Nachkriegszeit sowie der unmittelbare Kontakt mit Besatzungssoldaten, Flüchtlingen usw. konfrontieren viele deutsche Jugendliche früher als bisher und in ungewohnt offener Form mit Sexualität. Der Pädagoge Kurt Hahn setzt sich 1950 für eine Sexualerziehung der Jugendlichen in der Pubertät ein, die diesen Umständen Rechnung trägt, sich aber dennoch bemüht, neben der körperlichen auch die seelische Dimension des Geschlechtslebens zur Geltung zu bringen.

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Die staatliche Autorität ist weithin geschwunden. Die Nachkriegsschule mit den des öfteren gemaßregelten oder gelegentlich auch entlassenen Lehrern hat nur einen blassen Abglanz ihrer einstigen Autorität. In diese durch die verworrenen Nachkriegsverhältnisse erhöhten Gefahren nun fallen die entwicklungsbedingten und unabhängig von den besonderen Zeitumständen naturgegebenen Spannungen unserer 15–18jährigen Schuljugend. Die Verfrühung der Pubertät, wie sie schon seit Jahrzehnten durch die Verstädterung eingetreten war, ist inzwischen noch weiter fortgeschritten. Die Klassen bestehen infolge des großen Flüchtlingszustromes zu einem Teile aus zusammengewürfelten Schülern mit weit größeren Altersunterschieden als früher. Waren schon seit jeher die jüngeren Schüler durch die älteren, meist die Sitzlinge, die sich mit Vorliebe als Aufklärer in der Klasse betätigen, gefährdet, so ist das heute weit mehr der Fall. Wir können ohne Übertreibung sagen, in bezug auf das Geschlechtliche sind unsere Fünfzehnjährigen bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen heute Wissende.

Schon in ruhigen Zeiten steht dem im Erwachen gesteigerten Trieb eine unzureichende seelische Widerstandskraft gegenüber. Die traurigen Nachkriegsjahre, in denen Zucht und Ordnung, Anstand und Lauterkeit erschreckend niedrig im Kurs standen, tragen mit Schuld daran, daß so viele Jugendliche nach den ersten großen Erschütterungen bei der Entdeckung des geheimnisvollsten, mit Schuldgefühl verbundenen Körpererlebnisses immer seltener in Augenblicken ruhiger Besinnung die Sehnsucht verspüren, aus ihrem dunklen Gefängnis schuldverstrickter Leibesgebundenheit herauszukommen an das helle Licht, um die von ihnen zerstörte Welt mit gläubigem Vertrauen wiederaufzubauen. So viele fühlen sich in ihrer dumpfen und ungehemmten Triebergebenheit mit jederzeit erreichbarer Lustbefriedigung ziemlich wohl und unterdrücken etwa aufkommende Minderwertigkeitskomplexe. Was vor wenigen Jahrzehnten mehr für die Arbeiterjugend galt, bei der infolge der härteren Lebensbedingungen die Entwicklungsjahre derber und unsentimentaler als bei der Jugend des Bürgertums verliefen, das gilt heute, bedingt durch den verrohenden Einfluß des Krieges, weitgehend auch für die übrige Jugend: Der das bessere Ich im Menschen ansprechende Eros als seelische Komponente der Reifezeit schwingt heute weit weniger mit, als das vordem der Fall war.

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Wie kann nun geholfen werden? Es ist und bleibt ja die große Schwierigkeit, in diesem Alter an den Jugendlichen wirklich heranzukommen. Die Voraussetzung dafür, daß die Jungen sich dem Lehrer gegenüber aufschließen, ist eine unbedingte, auf natürlicher Autorität, Liebe und Anhänglichkeit begründete Disziplin.

Nach meinen Erfahrungen ist der Biologieunterricht für die Sexualerziehung ganz besonders geeignet.

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