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Die Zentralstelle der Evangelischen Bahnhofsmission: Arbeitsbericht (1945/46)

In der Zusammenbruchgesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit kommt den christlichen Kirchen eine wichtige Stützungsfunktion zu. Die enormen Menschenmengen – evakuierte Zivilisten, Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge aus dem Osten, „Fremdarbeiter“ – , die sich ohne ausreichende Versorgung und mit stark eingeschränkten Transportmitteln durch Deutschland bewegen, machen die Bahnhöfe zu Brennpunkten der sozialen Not. Die Evangelische Bahnhofsmission nimmt bereits im Mai 1945 ihre Arbeit wieder auf und bemüht sich zunächst in den großen Städten trotz fehlender Räume und Hilfsmittel unter schwierigsten Umständen, Reisende so gut wie möglich aufzufangen. Im Jahr 1946 läßt der Druck nach und die Rahmenbedingungen verbessern sich.

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Bahnhofsmission im Jahre 1945

I. Die örtliche Arbeit.

Drei Eindrücke sind als Merkmale des Jahrs 1945 besonders lebendig.

1. Überall wird B.M.-Arbeit neu ins Leben gerufen. Am 1. September [1939] war die alte bewährte Arbeit der B.M. durch Erlass der NSV. (Hilgenfeldt) eingestellt worden. Was dafür in Tarnung als „Kirchlicher Dienst an der wandernden Gemeinde“ getan werden konnte, war sehr bescheiden und als B.M. im eigentlichen Sinne nicht mehr anzusprechen, - wenngleich auch gerade in dieser Arbeit, angesichts wachsender Not durch die verbombten Städte und ihre evakuierten Bewohner, vonseiten der Zentralstelle mit grosser Liebe gearbeitet worden ist und dankbar u.a. gesehen werden kann, dass diese Arbeit die Zentralstelle der B.M. für den heutigen Dienst erhalten hat.

Im Mai 1945 kam der Zusammenbruch. Von dem Augenblick an, wo der bescheidenste Reiseverkehr einsetzte, war die B.M. da. Aus Berlin, aus der Provinz, aus der Zone, endlich auch aus dem Westen kamen die Meldungen: „Wir sind am Werk.“ In den Monaten Mai, Juni, Juli, August und September waren alle hauptsächlichsten B.M.n wieder erstanden.

Hinter den örtlichen B.M.n und ihrem Einsatz stand die Initiative aller kirchlichen Kräfte, vor allem der Einsatz der Inneren Mission, die örtlich und in den provinziellen Stellen sofort mit grosser Tatkraft zugriff. Auch die Frauenhilfe sprang ein. Sie stellte vor allem in grosser Zahl die ehrenamtlichen Kräfte und half durch materielle Gaben. Das zum Teil ganz besonders in den Gegenden, wo selber auf den Dörfern bittere Not herrschte. Das Gleiche geschah von Seiten der Kirchengemeinde. Der barmherzige Brotkorb, der barmherzige Kleiderschrank werden zu wichtigsten Hilfsquellen, um einen Teil der uferlosen Not zu lindern. Finanzielle Beihilfen zur Besoldung der Kräfte werden zur Verfügung gestellt. Wir haben diese Verankerung der Arbeit in der Kirchengemeinde mit grosser Freude begrüsst. Sie muss weiterhin gefördert und vertieft werden. (Gemeinden sollten, wie es jetzt in Pommern geschieht, Patenschaften für B.M.n übernehmen, und die Gemeindeglieder müssen zur Verteilung ihrer Gaben an die Notleidenden herangezogen werden. Wichtig ist es, dass die Bahnhofsmissionarinnen an Gemeindeabenden immer wieder eingehend aus ihrer Arbeit berichten.)

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2. Der zweite bleibende Eindruck des Jahres 1945 ist das erschütternde Ausmass der Not. Was sich auf den Bahnhöfen abgespielt hat, ist in besonders krasser und zusammengedrängter Form das Elendsbild des deutschen Schicksals. Ein Jammer ohne gleichen! Ein Chaos an Not! Die B.M. erlebt alles sozusagen aus erster Hand.

Es genügen wenige Sätze aus einem Bericht aus Frankfurt/O über die Sommermonate 1945, um das deutlich zu machen:

„Wochenlang kamen täglich 10-15.000 Flüchtlinge auf dem Bahnhof an. Infolgedessen musste die Eisenbahn im Monat 124 Waggons Unrat vom Bahnhof wegbefördern. Es fehlt an Obdach, Nahrung, Kleidung. Es kommen Männer und Frauen, die nur notdürftig in zerlumpte Decken gehüllt sind und sonst nichts mehr besitzen.“

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