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Vom Reformer zum Revolutionär – Thomas Müntzer, Die Fürstenpredigt (13. Juli 1524)

Thomas Müntzer (ca. 1489-1525) war Priester und ein früher Verbündeter Martin Luthers. Nachdem Müntzer jedoch begann, weitaus radikalere Ansichten zu vertreten, kam es zum Zerwürfnis zwischen den beiden. 1521 wurde Müntzer aus Zwickau verbannt und floh nach Prag. Er wurde 1523 Pastor in Allstedt in Thüringen und heiratete eine ehemalige Nonne. Im selben Jahr verfasste er die erste rein deutsche Liturgie. Der hier wiedergegebene Text, Die Fürstenpredigt, stammt aus dem Jahr 1524. Er ruft darin die weltlichen Fürsten auf, für eine radikale Gesellschaftsreform einzutreten und sich nicht mit Luthers konservativen Vorstellungen zufrieden zu geben. 1525 war Müntzer einer der Anführer des Bauernkrieges in Thüringen und wurde nach der Schlacht von Frankenhausen (Mai 1525) enthauptet. Sein Schicksal lag Jahrzehnte lang über dem deutschen Protestantismus. Die Fürstenpredigt, Müntzers bekanntester Text, ist eine glühende, utopische Apokalyptik, welche den Eindruck des unmittelbar bevorstehenden Gottesurteils verbreitet. Er lehrte ein „spirituelles Evangelium“, welches im Gegensatz zum Bibeltext den Christen durch den Heiligen Geist direkt ins Herz geschrieben werde.

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Auslegung des andern Unterschieds Danielis, des Propheten1, gepredigt auf dem Schloß zu Allstedt vor den tätigen, teuren Herzögen und Vorstehern zu Sachsen durch Thomas Müntzer, Diener des Wortes Gottes. Allstedt 1524


Zuerst wurde der Text des hier genannten Kapitels der Weissagung des Propheten Daniel nach seinen klaren Worten gesprochen und verdolmetscht und dann die ganze Predigt in eine gedankliche Ordnung gebracht, die nun folgt:

Es ist zu wissen, daß der armen, elenden, zerfallenden Christenheit weder zu raten noch zu helfen ist; es sei denn, daß sich die fleißigen, unverdrossenen Gottesknechte täglich mit der Bibel beschäftigen durch Singen, Lesen und Predigen. Aber dadurch wird der Kopf der zarten Pfaffen ständig große Stöße erleiden oder sein Handwerk bleiben lassen müssen. Wie soll man dem aber anders dienen, solange die Christenheit so jämmerlich durch reißende Wölfe verwüstet ist, wie Jes. 5, Ps. 79 vom Weinberg Gottes geschrieben ist und Sankt Paulus Eph. 5 lehrt, wie man sich in göttlichen Lobgesängen üben soll? Denn ebenso wie zur Zeit der lieben Propheten Jesaja, Jeremias, Hesekiel und der anderen die ganze Gemeinde der Auserwählten Gottes so ganz und gar in die abgöttische Weise geraten war, daß ihr auch Gott nicht helfen konnte, sondern sie gefangen wegführen und unter den Heiden so lange peinigen lassen mußte, bis sie seinen heiligen Namen wiedererkannten (wie geschrieben steht Jes. 29, Jer. 15, Hes. 36, Ps. 88), so – und in keinem Falle weniger – ist auch zu unserer Väter und unserer Zeit die arme Christenheit noch viel höher verstockt und dabei noch mit einem unaussprechlichen Schein des göttlichen Namens verbrämt (Luk. 21, 2. Tim 3), womit sich der Teufel und seine Diener hübsch schmücken (2. Kor. 11) – ja, so hübsch, daß die rechten Gottesfreunde damit verführt werden und auch mit dem aufs höchste aufgewendeten Fleiß kaum ihren Irrtum merken können, wie Matth. 24 klar anzeigt.

Dies alles richtet die gedichtete Heiligkeit und das heuchlerische Entschuldigen der gottlosen Feinde Gottes an, wenn sie sagen, die christliche Kirche kann nicht irren, wo sie doch geschaffen ist, den Irrtum zu verhüten, und deshalb durch das Wort Gottes ständig erbaut und vom Irrtum frei erhalten werden soll, ja, auch die Sünde ihrer Unwissenheit erkennen soll (Leviticus 4, Hosea 4, Mal. 2, Jes. 1).

Aber das ist wohl wahr: Christus, der Sohn Gottes, und seine Apostel, ja auch vor ihm seine heiligen Propheten haben wohl eine rechte reine Christenheit angefangen, den reinen Weizen in den Acker geworfen – das heißt, das teure Wort Gottes in die Herzen der Auserwählten gepflanzt, wie Matth. 12, Markus 4, Lukas 8 und Hesekiel 36 geschrieben ist.

Aber die faulen, nachlässigen Diener derselben Kirche haben dies mit emsigem Wachen nicht vollenden und erhalten wollen, sondern sie haben das Ihre gesucht und nicht, was Jesus Christus war (Phil. 2). Deshalb haben sie den Schaden der Gottlosen – das ist das Unkraut – kräftig einreißen lassen (Ps. 79).

Als der Eckstein, um den es hier geht und von dem Jesaja 28 sagt, noch klein gewesen ist, hat er fürwahr die Welt nicht gar erfüllt. Er wird sie aber gar bald erfüllen und voll, voll machen. Darum ist der aufgerichtete Eckstein im Anfang der neuen Christenheit bald verworfen von den Bauleuten – das heißt, von den Regenten (Psalm 117 und Lukas 20). Also – sag ich – ist die angefangene Kirche baufällig geworden an allen Orten bis auf die Zeit der zertrennten Welt (Luk. 21 und hier Dan. 2, Esra 4). Denn Hegesippus und Eusebius sagen im 22. Kapitel des 4. Buches der Geschichte der christlichen Kirche, daß die christliche Gemeinde nicht länger eine Jungfrau geblieben sei als bis zur Zeit des Todes der Apostelschüler, und bald danach ist sie eine Ehebrecherin geworden, wie denn zuvor durch die lieben Apostel verkündigt war (2. Petr. 2). Und in der Apostelgeschichte (Act. 20) hat Sankt Paulus mit klaren, hellen Worten zu den Hirten der Schafe Gottes gesagt: »Habt Achtung auf euch selber und auf die ganze Herde, über die euch der Heilige Geist zu Wächtern gesetzt hat, daß ihr die Gemeinde Gottes weiden sollt, die er durch sein Blut erworben hat. Denn ich weiß, daß nach meinem Abschied reißende Wölfe unter euch kommen werden, die die Herde nicht verschonen werden. Es werden auch von euch selber Männer aufstehen, die da verkehrte Lehren reden und die selbst Jünger nach sich ziehen. Darum seht darauf!«

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