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Bundespräsident Roman Herzog ruft zu einer Reform des deutschen Bildungssystems auf (5. November 1997)

Alarmiert von der schwachen internationalen Anziehungskraft des deutschen Bildungssystems, fordert Bundespräsident Roman Herzog eine grundlegende Reform aller Bildungsebenen in Richtung auf mehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Leistung.

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Aufbruch in der Bildungspolitik



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Ich wage mich heute als Bundespräsident auf vermintes Gelände. Aber wir dürfen diese Diskussion nicht nur in den Ländern führen. Sie ist auch nicht nur den Spezialisten und Lobbyisten vorbehalten. Eltern, Lehrer, Schüler und Studenten müssen sich beteiligen — mit einem Wort: wir alle. Denn schließlich handelt es sich um eine der ganz großen Zukunftsfragen unseres Landes. Wir brauchen eine breite, nationale Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems!

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land. Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen. Wer sich den höchsten Lebensstandard, das beste Sozialsystem und den aufwendigsten Umweltschutz leisten will, der muß auch das beste Bildungssystem haben.

Außerdem ist Bildung ein unverzichtbares Mittel des sozialen Ausgleichs. Bildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und noch immer die beste Prophylaxe gegen Arbeitslosigkeit. Sie hält die Mechanismen des sozialen Auf- und Abstiegs offen und hält damit unsere offenen Gesellschaften in Bewegung. Und sie ist zugleich das Lebenselixier der Demokratie in einer Welt, die immer komplexer wird, in der kulturelle Identitäten zu verschwimmen drohen und das Überschreiten der Grenzen zu anderen Kulturen zur Selbstverständlichkeit wird.

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Wir wissen nur eines schon jetzt: Vor uns liegt eine offene Welt, mit großer Komplexität und neuer Freiheit, damit aber auch mit größerer Verantwortung für den einzelnen. Es geht für unsere Kinder und Enkel darum, daß sie sich in dieser komplexeren Welt zurechtfinden können und daß sie nicht in einer Woge ungeordneter Fakten und Ereignisse untergehen.

Mit kosmetischen Korrekturen ist es da nicht getan. Es geht nicht um kleine Retuschen an Studienordnungen, es geht auch um mehr als eine Rechtschreibreform. Wir müssen an die Inhalte unseres Bildungswesens herangehen! Ich rufe auf zu einem öffentlichen Diskurs über die Inhalte, die das 21. Jahrhundert bestimmen werden.

Dazu brauchen wir — zumindest im Kern — einen neuen Grundkonsens über unsere Bildungsziele, an dem sich alle Bildungsinstitutionen orientieren können. Damit meine ich beileibe nicht neue verordnete Einheitlichkeit, sondern neue Leitgedanken, die Freiräume für Kreativität und Farbigkeit bieten. Ich weiß, wie schwierig das ist. Dennoch möchte ich Ihnen — in aller Subjektivität — die Eckpunkte eines solchen Bildungsmodells skizzieren.

Ich glaube an die Zukunft eines Bildungssystems, das sich durch sechs Eigenschaften auszeichnet: das erstens wertorientiert und zweitens praxisbezogen ist, das drittens international und viertens vielgestaltig ist, das fünftens Wettbewerb zuläßt und sechstens mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht.

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