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Ein Jahr Große Koalition (20. November 2006)

Die Bilanz der Großen Koalition nach einem Jahr war gemischt. Obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel eindeutige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat hatte, hatte sie in ihrer Regierungserklärung nicht mehr als „viele kleine Schritte“ versprochen. Mehr, so der Autor dieses Leitartikels, sei angesichts der geringen Risikobereitschaft der Bürger wohl auch nicht möglich.

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Ein Abbild dieses Landes

Die Deutschen sind nicht zufrieden mit der großen Koalition. Sie ist ihrem Schöpfer zu ähnlich.


Rechtzeitig vor dem Geburtstag haben sich einige gute Nachrichten in den Strom der schlechten gemischt, der seit Jahren durch die Republik fließt und schon zum neuen Schicksalsfluß der Deutschen zu werden drohte. Doch Feststimmung will nicht aufkommen zum ersten Jahrestag der großen Koalition. Allenthalben ist Enttäuschung darüber zu vernehmen, daß dieses Bündnis seine großen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht zu ganz großen Taten nutzte. Das bestreiten selbst seine Protagonisten nicht. Allerdings hatten sie Titanisches auch nicht angekündigt.

Von vielen kleinen Schritten sprach die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung. Und kleine Schritte hat diese Koalition getan, von der Arbeit an den Sozialversicherungen über die Föderalismusreform bis hin zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Die meisten von ihnen gingen in die rechte Richtung. Es gab keinen Stillstand, aber auch nichts Revolutionäres. Ordnungstheoretiker hatten reichlich Anlaß zum Haareraufen. Doch das Chaos brach auch nicht über Deutschland herein.

Nun kann man sagen, das ist zu wenig für ein Bündnis zweier Volksparteien, die beide den Anspruch erheben, die von vielen Problemen bedrängte Republik „zukunftsfähig" machen zu können. Zu wenig Entschlossenheit, Durchsetzungskraft, strategisches Denken, Einigkeit. Doch ist diese Koalition kein Überwesen, das mit der deutschen Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Ihr Hauptproblem liegt darin, ein allzu getreues Abbild der deutschen Gesellschaft mit ihren widerstreitenden, aber wohlorganisierten Interessen(gruppen) zu sein, die fast alle in dieser Koalition versammelt sind. Was sie tut, geht den einen viel zu weit, den anderen aber noch lange nicht weit genug. Die Nation hatte vor einem Jahr nicht den Mut zu einer klaren Richtungsentscheidung, wie er nun dauernd der Regierung Merkel abverlangt wird. Aber das Volk, der Schöpfer dieser Koalition, hat jetzt wenigstens einen Prügelknaben.

Es ist leicht, eine Politik der kleinen Schritte unterambitioniert zu nennen. Doch haben die letzten Jahrzehnte gezeigt, daß ein hochgezüchteter Sozialstaat, der noch dazu von einer komplexen bundesstaatlichen Struktur überlagert wird, schlicht nicht von oben „durchregiert" werden kann. Der Sozialstaat, der bis in die letzten Verästelungen der Gesellschaft vorgedrungen ist und dort Abhängigkeiten schuf, hat enorme Kräfte zur Selbstverteidigung entwickelt. Jeder Beschneidungsversuch führt zu heftigen Abwehrreaktionen bis weit in die Volksparteien hinein, die mit ihrem Kind leiden. Wer es nicht beschützt, wird abgestraft. Die Agenda 2010 kostete die SPD die Kanzlerschaft. Beinahe hätte das die CDU auch über ihren Reformenwahlkampf sagen müssen. Die Parteien merken sich solche Lektionen, ganz besonders, wenn die Strafe darin besteht, vier Jahre lang aneinandergekettet zu sein.

Das große Stimmengewicht der großen Koalition stellte sich als optische Täuschung heraus. Schon die Partei der Kanzlerin ist in vielem uneinig. Das ewige Ringen zwischen dem wirtschaftsliberalen Lager und dem Sozialstaatsflügel, der auf dem Leipziger Parteitag eine schwere Niederlage einstecken mußte, ist wieder offener, als es der Vorsitzenden recht sein kann. In der SPD mag die programmatische Verunsicherung derzeit nicht so auffallen wie in der Union; sie wurde partiell verdeckt vom zweifachen fliegenden Wechsel im Parteivorsitz. Doch kann man bei der SPD so wenig von einem geschlossenen ordnungspolitischen Leitbild sprechen wie im Falle der Union.

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