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Gershom Scholem über die Atmosphäre in München in den frühen zwanziger Jahren (Rückblick 1997)

Der Zionismus propagierte als Reaktion auf Antisemitismus eine Rückbesinnung auf das Judentum, selbstbewusstes Auftreten, die Vorbereitung auf die Auswanderung (v.a. durch landwirtschaftliche Schulung) und die letztliche Übersiedlung nach Palästina. Zwar konnte der Zionismus nach dem Machtantritt der Nazis 1933 durch diese klaren Empfehlungen eine große Rolle dabei spielen, den durch die Unterdrückungs-, Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes entwurzelten – bis dahin überwiegend nicht-zionistischen – deutschen Juden eine Art Ersatzidentität und mit Palästina ein konkretes Auswanderungsziel zu geben. Vor 1933 aber führte das klar definierte Ziel der Auswanderung, dem sich die übrigen Aktivitäten unterordnen sollten, dazu, dass sich die deutschen Zionisten am Abwehrkampf gegen den Antisemitismus im Allgemeinen und gegen die Nationalsozialisten im Besonderen nur in Ausnahmefällen beteiligten.

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In München hatte ich Gelegenheit, den aufkommenden Nationalsozialismus an der Universität von nahe kennenzulernen. Die Atmosphäre in der Stadt war unerträglich, was heute oft übersehen und in gedämpfteren Farben dargestellt wird, als es wirklich war. Unübersehbar waren die riesigen blutroten Plakate mit dem nicht weniger blutrünstigen Text, die zu den Reden Hitlers einluden. »Deutsche Volksgenossen sind willkommen. Juden ist der Eintritt verboten.« Mich selber berührte das wenig, da ich meine Entscheidung, Deutschland zu verlassen, längst getroffen hatte. Aber es war doch erschreckend, die Blindheit der Juden, die von alledem nichts wissen und nichts sehen wollten, wahrzunehmen. Das belastete meine Beziehungen zu Münchener Juden sehr, da sie außerordentlich kribbelig und böse wurden, wenn man die Rede darauf brachte. So beschränkte sich mein jüdischer Verkehr auf einen kleinen Kreis Gleichgesinnter.



Quelle: Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 172-73.

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