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Marie-Elisabeth Lüders, „Baukörper ohne Wohnungen” (1927)


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Baukörper ohne Wohnungen


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Wer diese Häuser eingehend besichtigt, fragt sich erstaunt, ob denn an den meisten von denen, die sie entworfen und ausgeführt haben, alle Forderungen, die an die Benutzbarkeit einer Wohnung als Familienheim gestellt werden müssen, spurlos vorübergegangen sind. Fragt man sich, ob sie denn noch gar nichts von den Erfordernissen, die die tägliche häusliche Bewirtschaftung an einen Bau stellen muß, gehört haben? Nur ein paar Beispiele. Es finden sich dort bis auf die Erde hinunter gehende, riesige, mit breiten Flügeln versehene Treppenfenster, die, geöffnet, den Durchgang auf dem Treppenabsatz vollkommen verstellen und eine beispiellose Gefahr für die Kinder im Hause bilden. Vor einem dieser Fenster findet sich auch noch eine über der Eingangstür liegende Bedachung – ohne Geländer. Die Fenster selber haben in Treppenabsatzhöhe drei horizontal liegende Gitterstäbe, die aber so weit gestellt sind. daß auch noch sechs- und mehrjährige Kinder ganz leicht durchklettern können. Die Bewohner von Zwei- und Dreizimmerwohnungen pflegen aber kein Kinderfräulein zu haben, das jedes Kind sorglich hinuntergeleitet und dazu Roller, Schlitten usw. an den tiefgehenden Scheiben vorbeilaviert. – Unter dem Motto „die Landschaft wird in den Raum gezogen“ finden sich solche bis zur Erde reichende Fenster auch in verschiedenen Wohnungen. Die Wände sind zum Teil vollkommen in Glas aufgelöst – nach Norden wie nach Süden in dem gleichen Raum. In solchen Räumen ist ein beständiger, für kleinere Kinder keineswegs unbedenklicher Gegenzug über den Fußboden hin. Im Sommer sind diese Räume, deren Fenster wegen ihrer Größe und hohen Lage keine Holzläden haben können, glühend heiß, und das Licht in ihnen ist so blendend, daß kleinere Kinder am Tage und etwas größere in den früheren Abendstunden darin nicht schlafen können. In einigen Wohnungen ist die Landschaft auch in die – nach Süden gelegene – Speisekammer, mit Hilfe eines bis auf einen geringen Sockel die ganze Wand einnehmenden Fensters, gezogen!! Es ist ein Irrtum, wenn die Erbauer vielleicht annehmen, daß der Mensch im Sommer einzig und allein von dicker Milch lebt. – An anderer Stelle ist der gleiche Sinn für die Schönheit der Natur der ebenfalls nach Süden liegenden Küche und an dritter Stelle der Badestube zugute gekommen. Über die Temperatur in der ersteren dürfte im Sommer kein Streit sein. Diese Küche hat aber einen weiteren schweren hauswirtschaftlichen Fehler: der für die Anzahl der auf dieses Haus zu berechnenden Personen sehr kleine Gasherd liegt dem Fenster gegenüber an einem kurzen Wandstück zwischen zwei im rechten Winkel zueinander gruppierten Türen. Erstens dreht man dem Licht beim Kochen den Rücken zu, zweitens schlägt die Gasflamme jedesmal durch, wenn eine Tür geöffnet wird, und drittens ist es ein Gotteswunder, wenn nicht jeder, der durch die Tür geht, ein Kochgeschirr vom Herd reißt oder der Flamme zunahe kommt. Da die Küche den Vorzug der Südlage im Erdgeschoß hat, liegen zwei Schlafzimmer, – davon das größere für zwei Personen nach – Norden halb unter der Erde!! – In dem Badezimmer eines Hauses befindet sich neben anderen auch hinter der Badewanne ein großes, nicht zu öffnendes, Fenster. Da die Wanne direkt unter dem Fenster endet, bleibt die Frage unbeantwortet, wie man das Fenster, das im ersten Stock liegt, reinigen soll. Von innen müßte man eine Leiter in die Wanne stellen, was eben nicht geht, und für außen das Reinigungsinstitut bestellen.

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In verschiedenen Häusern konnte man bemerken, daß auch nicht die geringste Möglichkeit bestand, einen nassen Mantel, Gummischuhe, Regenschirme abzulegen, dabei handelte es sich um Familienwohnungen; dafür gab es aber eine Terrasse von ca. zwanzig Quadratmetern. In denselben Wohnungen fanden sich wunderschöne Möbel, Kunstwerke in Entwurf und Ausführung – leider war unter den Möbeln nicht ein einziger Waschtisch, und in der sehr kleinen Badestube der einen Wohnung befand sich nur ein sehr kleines Waschbecken, in der zweiten Wohnung fehlte auch dieses. Wenn Wohnungen eingerichtet vorgeführt werden, wie das in der Weißenhofsiedlung weitgehend der Fall ist, so scheint uns der Zweck nicht nur darin zu liegen, daß man schöne Möbel zeigt, – die übrigens für die Bewohner dieser Häuser schon wegen ihres Preises bestimmt nicht in Betracht kommen –, sondern, daß man die Beschauer über die praktische Einrichtungsmöglichkeit belehrt, sie zu Geschmack für die Befriedigung der Bedürfnisse des täglichen Lebens erzieht, so wie es ist und nicht so, wie es der Schönheitssinn des Herrn N. N. in den luftleeren Raum konstruiert. Die Küche ist in den gleichen Wohnungen bemerkenswert lieblos und dürftig durchgeführt. In anderen Küchen, die sonst gute Dimensionen, praktische Raumeinteilung usw. haben, findet man jedoch Fenster, die so hoch über einem derart breiten angebauten Küchentisch liegen, daß jede normal große Frau sie nur mit Hilfe eines Stuhles öffnen kann. [ . . . ]



Quelle: Marie-Elisabeth Lüders, „Baukörper ohne Wohnungen“, Die Form. Monatsschrift für gestaltende Arbeit, 2. Jahr, Heft 10 (Oktober 1927), S. 316-19.

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