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Prof. Schultze-Naumburg und Walter Gropius, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen” (1926)


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Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen


Walter Gropius sagt:

die lust am bauen, am gestalten unserer häuser und städte wächst in allen schichten der bevölkerung, die gewaltigen entdeckungen, die völlig veränderten mittel der technik, die in 2 generationen umwälzungen mit sich brachten, die vielleicht ein ganzes jahrtausend zuvor überflügeln, haben die bauende welt vor eine solche fülle neuer probleme gestellt, daß die praxis noch nicht den kleinsten teil der möglichkeiten erfüllen kann.

technische probleme, die noch vor kurzer zeit träumerische utopien waren, sind mit hilfe der neu entdeckten kräfte – dampf und elektrizität – gelöst worden und haben die mittel für unsere bisherige lebensführung als veraltete methoden weit zurückgelassen. die natürliche trägheit des menschlichen herzens verhindert die schnelle umstellung auf die neuen errungenschaften. erst ein kleiner teil unserer bedürfnisse wird mit hilfe dieser neu eingefangenen naturkräfte und ihrem werkzeug, der maschine, befriedigt. aber gerade das bauen, dieser komplex verschiedenartigster werkarbeit, steht noch mitten in mittelalterlichen handwerksmethoden; die einbeziehung maschineller kräfte hat hier erst gerade begonnen, alles bisherige an materialien, konstruktionen und formen über den haufen zu werfen. die neuen materialien, eisen, beton, glas, standen früheren generationen gar nicht oder nur im geringsten ausmaß zur verfügung. ihre anwendung beginnt der architektur von heute ein völlig neues überraschendes gesicht zu geben. ähnlich wie bei einzelnen gegenständen unserer umgebung, wie heizung und beleuchtung infolge der verwendung industrieller herstellungsmethoden, ein völliger gestaltwandel gegen früher festzustellen ist, beginnt sich auch hier die gestalt der baukörper grundlegend zu verändern.

zunächst offenbart sich dieser wandel an allen bauwerken, die neuen, der gegenwart entsprechenden raumproblemen dienen, wie etwa fabriken, bahnhöfen, brückenbauten. von ihnen ging daher auch ganz logisch die befruchtung der neuen baukunst aus, denn die neuen erfindungen der technik müssen heute, wie zu allen zeiten, von ausschlaggebender bedeutung für die entwicklung der baukunst werden.

aber verhängnisvolle irrtümer verhindern das breite eindringen dieser selbstverständlichkeiten in die große masse der übrigen bauplanungen.

mit dem rückgang des mittelalterlichen handwerks stieg der begriff des akademischen, und der hüter der baukunst, der architekt, verlor die natürliche verbindung mit der fortschreitenden technik neuer materialien und konstruktionen, blieb im akademischen ästhetentum hängen, ward müde und konventionbefangen, und die lebendige gestaltung der behausungen und städte entglitt ihm. die kunst des bauens versank in den letzten generationen in einer schwächlich sentimentalen auffassung, die ihr ziel in formalistischer verwendung von motiven, ornamenten und profilen erblickte, die den baukörper bedeckten, der bau wurde ein träger äußerlicher, toter schmuckformen, anstatt ein lebendiger organismus zu sein.

die führer der modernen baubewegung ziehen gegen das matte und sterbende epigonentum einer dekorierenden architektenschaft entschlossen zu felde. es muß sinnlos erscheinen, daß der mensch dieser technischen zeit sich mit imitationen vergangener, in ihrer struktur so gänzlich anderer zeiten, wie gotik, rokoko, renaissance, barock, umgibt. diese zeiten dachten nicht daran, die vergangenen zu imitieren, sie waren stolz auf den eigenen ausdruck ihres lebens. die imitation dieser vergangenen stile im äußeren und inneren unserer häuser wirkt genau so albern, als wenn wir auf unseren straßen im kostüm und kopfputz dieser zeiten herumwandelten. der moderne mensch von 1926 braucht städte, häuser, wohnungen und geräte aus seiner zeit, nach form und technik klare ergebnisse der mittel und methoden, die uns die errungenschaften unseres geistes an die hand geben.

die gebundenheit aller bauorganismen, die unserem leben dienen sollen, an industrie und wirtschaft, an ihre exaktheit und knappe ausnutzung von raum und material, wird ihre gestalt bestimmen. die entschlossene berücksichtigung aller modernen methoden beim errichten unserer bauten muß gefordert werden, auch wenn ihre form, von der althergebrachten abweichend, ungewohnt und überraschend wirkt. denn die fähigkeit, einen bau „schön“ zu gestalten, beruht auf der meisterlichen beherrschung aller wirtschaftlichen, technischen und formalen voraussetzungen, aus denen sein organismus resultiert. die art, wie der erbauer die beziehungen der massen, materialien und farben des baues ordnet, schafft ihm sein charakteristisches gesicht. in den maßverhältnissen dieser ordnung liegt sein kultureller wert verborgen, nicht in äußerlicher zutat von schmückendem profil und ornament. diese stören seine klare gestalt, sobald sie nicht funktionell, d. h. aus ihrem technischen und räumlichen sinn begründet sind.

so entwickelt die neue architektur ihr gegenwartbejahendes manifest:

„organische gestaltung der dinge aus ihrem eigenen gegenwartgebundenen gesetz heraus, ohne romantische beschönigungen und verspieltheiten.

beschränkung auf typische, jedem verständliche grundformen und grundfarben.

einfachheit im vielfachen, knappe ausnutzung von raum, stoff, zeit und geld. bejahung der lebendigen umwelt der maschinen und fahrzeuge, ihres tempos und ihres rhythmus.

beherrschung immer kühnerer gestaltungsmittel, um die erden-trägheit im bau in wirkung und erscheinung schwebend zu überwinden.“

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