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Friedrich Kroner, „Überreizte Nerven” (1923)

Während des Ersten Weltkriegs war das Schlangestehen aufgrund der kritischen Versorgungslage und der Rationierung von Lebensmitteln eine nervenaufreibende Notwendigkeit. Auch nach dem Ende der alliierten Blockade im Juli 1919 kam es zu Versorgungsengpässen; zwar wurde ab 1920/21 schrittweise die Zwangsbewirtschaftung abgebaut, jedoch machte die drastisch zunehmende Teuerung den Konsumenten zunehmend zu schaffen. Während der Hyperinflation versuchten die Konsumenten verzweifelt, mit dem rapide an Wert verlierenden Geld wenigstens die nötigsten Besorgungen zu machen, während bei den landwirtschaftlichen Produzenten der Unwillen wuchs, ihre Waren gegen praktisch wertloses Papiergeld einzutauschen.

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Überreizte Nerven


Man hat nicht viel zuzusetzen. Das trommelt Täglich auf die Nerven: der Zahlenwahnsinn, die ungewisse Zukunft, das über Nacht wieder fraglich gewordene heute und Morgen. Epidemie der Angst, der nacktesten Not: dem Blick längst entwöhnt gewesene Käuferschlangen stehen wieder vor den Läden, erst vor einem, dann vor allen. Keine Krankheit ist so ansteckend wie diese. Die Anstell schlangen haben etwas Suggestives: der Blick der Frauen, ihre hastig angetanen Küchenkleider, ihre vergrämten geduldigen Gesichter. Die Anstehschlangen sind immer wieder das gleiche Fanal: Die Stadt, die große steinerne Stadt wird wieder einmal leergekauft. Reis, gestern noch das Pfund 80 000 Mark, kostet heute 160 00 Mark, morgen vielleicht das Doppelte, übermorgen zuckt der Mann hinterm Ladentisch die Achseln: ‚Reis is all.‘ Also Nudeln! ‚Nudeln sind alle.‘ Also Graupen, Grieß, Bohnen, Linsen nur kaufen, kaufen, kaufen! Das Stück Papier, das funkelnagelneue Banknotenpapier, noch feucht vom Druck, heute früh als Wochenlohn ausgezahlt, schrumpft an Wert auf dem hastigen Wege zum Kaufmannsladen. Die Nullen, die wachsenden Nullen! ‚Ne Null is eben nischt!’ – Mit dem Dollar steigt das: Hass, Verzweiflung, Not. Tagesgefühle wie Tageskurse. Mit dem Dollar stürzt es in Hohn und Gelächter zusammen: ‚Butter Billiger! Statt 1 Million 600 000 nur 1 Million 400 000.‘ Das sind kein Scherze, das sind Wirklichkeiten, ernsthaft mit Bleistift geschrieben, in das Ladenfenster hineingehängt und ernsthaft gelesen. Mit dem Dollar steigt das: Die hast, das Stuck Papier umzusetzen in etwas, was man hinunterschlingen kann, was satt macht. die Wochenmärkte sind überfüllt. Schutzpolizei regelt den Verkehr. Die Schlange frisst die Stände leer. ‚Geben Sie mir zwei Mandeln Kohlrabi,‘ -- ‚Ein gibt’s nur ... Der Nächste!‘ Irgendwo explodiert die Geduld. Die Resignation zerreißt. Nicht bei dem Kohlrabimann ‚ der ein grober Kerl ist. Man schluckt auch noch die bissige Bemerkung des Schlächters hinunter, dass alle Kühe Knochen haben müssen. Man zahlt und schwankt hinaus. Aber dann, bei dem Butterfräulein, deren Gesicht immer spitz, der Redensarten immer spinöser werden, je voller ihr Laden ist – dieses nervöse Butterfräulein: es erteilt Anstandsregeln, wie man sich als Kunde zu benehmen hat, es verkündet laut, dass Drängeln ein Frechheit, dass nicht alle durcheinander schreien sollen. Se könne sonst nicht ruhig abwiegen. -- ‚Nu gebe Sie mir endlich meine Butter. Eh‘ Sie rankommen, ist Ihre Butter alle. „– Und da schlägt als Antwort ein Schirmkrücke in die Glasglocke mit dem Kräuterkäse. Und der Schupo, der draußen Wache steht, zerrt eine schluchzende Frau aus dem Laden. Und es gibt einen Auflauf. Und es gibt ein Strafmandat.



Quelle: Friedrich Kroner, „Überreizte Nerven“, Berliner Illustrirte Zeitung (26. August 1923).

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