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Der Präsident des Deutschen Bundestags Wolfgang Thierse eröffnet das Holocaust-Mahnmal (10. Mai 2005)

Im Mai 2005 eröffnet der Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse (SPD) das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Mitte Berlins und begrüßt das Feld von Betonstelen nicht als ein kollektives Alibi, sondern als beständige Herausforderung, den Holocaust in Erinnerung zu behalten.

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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ am 10. Mai 2005 in Berlin


Vor 2 Tagen, am 8. Mai, hat die Bundesrepublik Deutschland, haben wir des Kriegsendes und der Befreiung unseres Landes und unseres Kontinents von der Hitlerbarbarei gedacht.

Heute eröffnen wir ein Denkmal, das an das schlimmste, das entsetzlichste Verbrechen Nazideutschlands erinnert, an den Versuch, ein ganzes Volk zu vernichten. Dieses Denkmal ist den ermordeten Juden Europas gewidmet.

Dies ist ein Denkmal an der Grenze, ein Denkmal im Übergang – und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Es gab über dieses Denkmal die höchstmögliche Entscheidung, die in dieser Republik möglich ist: eine Entscheidung des Deutschen Bundestages. Als die Entscheidung des Parlaments mit parteiübergreifender großer Mehrheit am 25. Juni 1999 fiel, war dem eine zehnjährige intensive Debatte vorausgegangen – angestoßen von einer Initiative von Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft und getragen von deren unbeirrbarem Engagement bis heute.

Die Entscheidung für das Denkmal in Berlin war eine der letzten, die der Bundestag in Bonn vor seinem Umzug fasste. Es war die Entscheidung für ein erstes gemeinsames Erinnerungsprojekt des wiedervereinten Deutschland und das Bekenntnis, dass sich dieses geeinte Deutschland zu seiner Geschichte bekennt und zwar indem es in seiner Hauptstadt, in ihrem Zentrum, an das größte Verbrechen seiner Geschichte erinnert. Im Zentrum jener Stadt, die zwar nicht der Ort des Massenmordes war, von der aus aber die systematische millionenfache Tötung von Menschen erdacht, geplant, organisiert, verwaltet wurde.

Keine andere Nation habe je den Versuch unternommen, so schrieb der amerikanische Judaist James E. Young, „sich auf dem steinigen Untergrund der Erinnerung an ihre Verbrechen wiederzuvereinigen oder das Erinnern an diese Verbrechen in den geographischen Mittelpunkt ihrer Hauptstadt zu rücken“. – Eine Aufgabe also an der Grenze dessen, was einer sozialen Gemeinschaft möglich ist. Das mag die Heftigkeit der Debatte um das Denkmal, auch manchen Widerstand erklären und rechtfertigen. Widerspruch und Debatte werden das Denkmal wohl auch weiter begleiten, was gewiss nicht das Schlechteste sein muss.

Der Holocaust berührt die „Grenze unseres Verstehens“, so ist zutreffend gesagt worden. Dieses Denkmal agiert an dieser Grenze. Es ist der Ausdruck für die Schwierigkeit, eine künstlerische Form zu finden, die dem Unfassbaren, der Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, dem Genozid an den europäischen Juden überhaupt irgend angemessen sein könnte. Es verwischt die Grenze nicht zwischen einer Erinnerung, die auf keinerlei Weise „bewältigt" werden kann, und jener Erinnerung, die für Gegenwart und Zukunft Bedeutung haben muss.

Dies soll ein Ort des Gedenkens sein, soll also die Grenze überschreiten, die zwischen kognitiver Information, historischem Wissen einerseits und Empathie mit den Opfern, Trauer um die Toten anderseits liegt – so sehr beides gewiss zusammengehört. Dieses Denkmal – mit dem Ort der Information – kann uns Heutigen und den nachfolgenden Generationen ermöglichen, mit dem Kopf und mit dem Herzen sich dem unbegreiflich Geschehenen zu stellen.

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