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Michail Gorbatschows Bedenken angesichts der Wiedervereinigung (5. Dezember 1989)

Beunruhigt von der Aussicht, durch die deutsche Einheit seinen ostdeutschen Satellitenstaat zu verlieren und so auch sein gesamtes osteuropäisches Imperium, tadelt der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow den westdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, kritisiert Kohls Initiative und warnt vor einer Einmischung in DDR-Angelegenheiten.

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Gorbatschow: Sie sind für uns ein privilegierter Gesprächspartner, weil wir Sie seit langem kennen und schätzen. Neue, wenig bekannte Menschen werden üblicherweise geschont, aber mit alten Bekannten kann man direkt und offen sprechen. Bei Ihnen ist es erlaubt, sich gleich mit komplizierten Angelegenheiten auf Sie zu stürzen.

Genscher: Wir wollen aus den Prozessen, die in Osteuropa vonstatten gehen und Probleme hervorbringen, die bei der Durchführung gewaltiger Reformen unvermeidbar sind, keinen einseitigen Vorteil für uns ziehen. Unser Ziel ist die Stabilisierung der Lage durch die Entwicklung der Beziehungen mit der Sowjetunion, Polen, Ungarn und der DDR. Das ist uns ein Herzensbedürfnis. Wir streben keine Einzelaktionen, keinen separaten deutschen Weg an. Unser Land ist in die EWG integriert, obwohl das nicht ganz Europa ist. Wir beabsichtigen auch die Entwicklung des Helsinki-Prozesses zu fördern, weil er ein Garant für die Stabilität auf dem Kontinent ist. Von den Deutschen soll man keine Schritte erwarten, die die europäische Entwicklung schädigen könnten. Wir sind für Stabilität in Europa, für die Annäherung ihrer Staaten und Völker. [ . . . ]

Ich sage das nicht als Privatperson, sondern als Außenminister der BRD. Die Politik unserer Regierung ist nicht die Politik einer Minderheit, sondern eine Linie, die die Bevölkerungsmehrheit der BRD unterstützt und die allergrößte Zustimmung des Bundestages hat. Das garantiert uns einen großen Vertrauensvorschuss von all jenen, die mit uns zusammenwirken und natürlich von Seiten der Sowjetunion. Wir sind bestrebt, diesen Vorschuss zu vergrößern.

Gorbatschow: Ich habe Ihre Äußerungen mit Aufmerksamkeit und Vertrauen aufgenommen. Falls das von Ihnen Gesagte der Wirklichkeit entspräche, so könnte man das nur begrüßen, und wir könnten unsere Unterhaltung mit einem Gefühl des Vertrauens und des Optimismus abschließen. Es gibt allerdings einige Bemerkungen. Es gibt zwei Ebenen. Eine ist die philosophisch-konzeptionelle, auf die sich Ihre Ausführungen beziehen. Die andere Ebene betrifft die reellen, praktischen Schritte, die wir sehr aufmerksam beobachten. In Europa und in der ganzen Welt vollziehen sich jetzt gewaltige Umwälzungen. Das ist eine Wendung zum Besseren. Die Konfrontation und das Wettrüsten wird eingestellt, es wächst das gegenseitige Vertrauen. Und es wäre sehr gefährlich, falls hinsichtlich dieser Umwälzung provinzielle, regionale, egoistische und utilitaristische Herangehensweisen dominieren würden. [ . . . ]

Ich sage offen, dass ich den Bundeskanzler Kohl nicht verstehen kann, der mit seinen zehn bekannten Punkten, die die Absichten der BRD gegenüber der DDR betreffen, aufgetreten ist. Es gilt, offen zu erklären, dass das ultimative Forderungen sind, die in Bezug auf einen selbständigen und souveränen deutschen Staat erhoben wurden. Das vom Kanzler Gesagte betrifft, obwohl es um die DDR geht, uns alle.

Erstens, diese zehn Punkte tauchten auf, nachdem wir einen konstruktiven und positiven Meinungsaustausch und Vereinbarungen in einer Reihe grundlegender Fragen (erreicht) hatten. Eigentlich hätte man mit einem solchen Dokument erst nach entsprechender Konsultation mit den Partnern auftreten dürfen. Oder braucht das der Bundeskanzler alles nicht mehr? Er meint offensichtlich, dass seine Musik, ein Marsch, erklingt, und er schon selbst nach ihr zu marschieren beginnt. Ich denke nicht, dass diese Schritte die Festigung des Vertrauens und gegenseitigen Verständnisses bewirken und einen Beitrag leisten, um die zwischen uns erreichten Vereinbarungen mit Leben zu erfüllen. Wie kann man von einem »europäischen Aufbau« sprechen, wenn man so agiert? Sie wissen, dass wir mit Kanzler Kohl telefoniert haben. Ich sagte ihm, dass die DDR nicht nur ein Faktor der europäischen, sondern der weltweiten Politik ist und dass sowohl der Osten als auch der Westen alles aufmerksam beobachten werden, was vor sich geht. Kohl stimmte dem zu, beteuerte, dass die BRD die Lage in der DDR nicht destabilisieren will und abgewogen handeln wird. Allerdings stimmen die praktischen Handlungen des Kanzlers nicht mit seinen Beteuerungen überein. Ich sagte Kohl, dass die DDR für die Sowjetunion ein wichtiger Partner und Verbündeter ist. Wir sind auch an der Entwicklung unserer Beziehungen zur BRD interessiert. Das ist das Dreieck, das eine besondere Rolle in der europäischen und Weltpolitik spielt. In ihm sollte alles sorgfältig ausgewogen sein. Aber jetzt werden ultimative Forderungen gestellt. Es werden Weisungen gegeben, welchen Weg die DDR beschreiten soll, welche Strukturen geschaffen werden sollen. Die Führung der BRD drängt regelrecht danach zu kommandieren. Und das fühlen alle, das kann ich Ihnen versichern. [ . . . ]

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