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Massendemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz
(4. November 1989)

Mit den Versprechungen der SED nicht zufrieden, demonstrierten am 4. November 1989 bis zu 500.000 Menschen in Ost-Berlin für weitere Bemühungen um eine Demokratisierung des Sozialismus, wobei die Massen sowohl apologetische Reden von Reformkommunisten als auch kritische Appelle von Intellektuellen hörten.

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Christa Wolf, Christoph Hein und Steffie Spira auf der Berliner Großdemonstration am 4. November 1989


Christa Wolf, Schriftstellerin:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben. Und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft. Und wir erinnern uns der steckengebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance, die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen. (Klatschen)

Mit dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: Klar zur Wende, weil der Wind sich gedreht hat oder ihm ins Gesicht bläst. (Applaus)

Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärts treibenden Lage? Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. (Applaus) Revolutionen gehen von unten aus. Unten und oben wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem. Und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang (Applaus), soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden. Miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel Zorn und Trauer, aber auch mit soviel Hoffnung. Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig. Wir befreunden uns mit Menschen, die wir vorher nicht kannten. Und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen, die wir zu kennen glaubten. Das nennt sich nun Dialog. Wir haben ihn gefordert, nun können wir das Wort fast nicht mehr hören. Und haben doch noch nicht wirklich gelernt, was es ausdrücken will. Mißtrauisch starren wir auf manche plötzlich ausgestreckte Hand, in manches vorher so starre Gesicht. Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser. (Applaus)

Wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben, und geben sie postwendend zurück. Wir fürchten benutzt zu werden, verwendet. Und wir fürchten ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. In diesem Zwiespalt befindet sich nun unser ganzes Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen. Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben, durch uns selbst. (Applaus)

Verblüfft beobachten wir, daß die Wendigen, im Volksmund Wendehälse genannt (Klatschen), die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen, sich in ihr mit Geschick bewegen, sie zu nutzen verstehen. Sie am meisten – glaube ich – blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik. (Applaus.) Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir auch sie mit Humor nehmen können. Was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. »Trittbrettfahrer zurücktreten!« lese ich auf Transparenten. Und an die Polizei gerichtet von Demonstranten der Ruf: Zieht Euch um und schließt Euch an! (Applaus)

Ich muß sagen, ein großzügiges Angebot. Ökonomisch denken wir auch. Rechtssicherheit spart Staatssicherheit! (Starker Applaus)

Und heute habe ich auf einem Transparent eine schier unglaubliche Losung gesehen: Keine Privilegien mehr für uns Berliner! (Applaus).

Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist: Traum. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg! (Starker Applaus)

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