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Der Chefredakteur der Zeit über die Nürnberger Prozesse (22. Januar 1948) und die amerikanische Reaktion (12. Februar 1948)

Richard Tüngel, der konservative Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, kritisiert in scharfen Worten die Prozesse vor dem Militärgerichtshof in Nürnberg und gibt damit die Ansicht vieler Deutscher wieder. Er hält den USA angebliche Rechtsbeugungen vor und vergleicht manche der Verfahrensweisen mit Praktiken der Sondergerichte des „Dritten Reichs“. In seiner drei Wochen später als Leserbrief gedruckten Entgegnung widerspricht der Vertreter der amerikanischen Anklagevertretung nicht weniger scharf wesentlichen Fakten in der Darstellung Tüngels und bezweifelt die demokratische Gesinnung des Journalisten.

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I. Nürnberger Recht


Wir haben zu vielem, was in Nürnberg unter Verantwortung der Anklagebehörde geschieht, bisher geschwiegen. Wir haben geschwiegen zu dem, was sich in dem Zeugenflügel des Gerichts abspielt, wir haben geschwiegen zu den Drohungen und Einschüchterungen, denen Zeugen ausgesetzt sind und die unserer Gerichtsverfassung nicht entsprechen. Wir haben geschwiegen, als Zeugen uns berichteten, daß man sie veranlassen wollte, unrichtige Protokolle zu unterschreiben, die den Aussagen nicht glichen, für die man sie vereidigt hatte. Wir haben geschwiegen, obgleich wir wußten, daß unschuldige Zeugen monatelang in Haft gehalten worden sind – es war ein amerikanischer Richter, der dies im Generalprozeß festgestellt hat. Wir haben auch geschwiegen, als der Ankläger zur Verteidigung dieses Verfahrens vor dem Gericht eine ausweichende Aussage machte. Wir haben zu den Methoden jenes Herrn Kempner geschwiegen, den der angesehenste Journalist Europas, Herr Öerl, in den Baseler Nachrichten einen Menschenjäger nannte, ohne daß dem – soweit wir wissen – öffentlich widersprochen worden sei. Aber jetzt, nachdem sechs deutsche Anwälte des Krupp-Prozesses im Gerichtssaal verhaftet worden sind, jetzt, da die gleiche Verhaftung dem Rechtsanwalt Achenbach droht, wenige Tage bevor der Fall seines Mandanten zur Verhandlung kommt, jetzt können wir nicht mehr schweigen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um die Anklagebehörde, sondern um das Gericht.

Wir wollen nicht noch einmal uns den Vorwurf machen lassen, daß wir feige zusehen, wenn unserer Meinung nach das Recht verletzt wird. Wir klagen an. Wir, die wir Hitler und sein »Drittes Reich« immer gehaßt, wir, die wir gefordert haben, daß die Schuldigen des Nazisystems streng bestraft werden sollen, wir sehen uns gezwungen, dafür einzutreten, daß in Nürnberg Recht geschieht. Sechs deutsche Anwälte sind verhaftet worden. Nach dem amerikanischen Gerichtsverfahren ist dies zulässig – in Deutschland geschah das gleiche nur vor den Sondergerichten des »Dritten Reiches«.

Aber handelt es sich in Nürnberg eigentlich um ein Gericht der Vereinigten Staaten? Das Tribunal des Milch-Prozesses hat dies bejaht. Andere Nürnberger Militärgerichte stehen auf dem Standpunkt, sie seien internationale Gerichte, die vom Alliierten Kontrollrat eingesetzt sind. Dennoch spricht bei jedem in Nürnberg im Namen der Vereinigten Staaten eröffneten Verfahren der Gerichtsmarschall jedes der nur von amerikanischen Richtern besetzten Gerichte vor Beginn jeder Sitzung, neben der Fahne der Vereinigten Staaten stehend, die Worte: »Gott schütze die Vereinigten Staaten von Amerika.« Wenn aber diese Gerichte trotzdem international sein sollen, könnte dann nicht auch deutsches Recht in dem Verfahren berücksichtigt werden?

Die sechs Anwälte haben dagegen protestiert, daß Belastungszeugen in Abwesenheit der Angeklagten von einem Commissioner, einem Beauftragten, vernommen werden können. Ist dies nach den Erfahrungen im Zeugenflügel, nach den Erfahrungen, die freiwillige Zeugen mit der Anklagebehörde gemacht haben, nicht verständlich? Sollte nicht die Rechtsfindung höher stehen als eine Verfahrensordnung, und sollte man nicht darüber hinwegsehen, wenn untadelige deutsche Anwälte in begreiflicher Erregung zugunsten ihrer Mandanten die amerikanische Gerichtsordnung dem Buchstaben nach verletzen?

Der amerikanische Anwalt Carroll hat dem Frankfurter Vertreter der New York Herald Tribune gegenüber erklärt, die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse seien eine »tragische Verhöhnung der amerikanischen Justiz«. Wir hoffen, daß der Antrag, den er beim Supreme Court der Vereinigten Staaten stellen will, diese Prozesse für ungültig zu erklären, wenigstens dazu führen wird, daß von hoher unparteiischer Stelle die Methoden der Anklagebehörde überprüft werden, damit das deutsche Volk Vertrauen zu den Nürnberger Verfahren gewinnen kann.


Quelle: Der Artikel erschien, nur mit dem Kürzel »Tgl.« gekennzeichnet, am 22. Januar 1948 in der Zeit.

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